Der Lampedusa-Pfarrer von St. Pauli

Wie sich ein Geisterlicher im Hamburgs Szenebezirk für Geflüchtete engagiert

  • Bernhard Sprengel, Hamburg
  • Lesedauer: 4 Min.

»Das hier ist ein Ort der Verwerfung«, sagt St.-Pauli-Pastor Sieghard Wilm über seinen Wohn- und Arbeitsort. Rund um seine Kirche in Hamburg kommt alles zusammen: Partygänger und Touristen, Prostituierte und Freier, Flaschensammler und Flüchtlinge, Drogensüchtige und Dealer. Der 52-jährige Wilm schätzt die Vielfalt auf St. Pauli, romantisiert sie aber nicht. »Hier knallt so viel aufeinander.« Huren, Säufer, Junkies - und Millionäre. Aus allen Gruppen kämen Leute in die Kirche. »Manchmal ist es skurril, wenn man weiß, wer gerade vorne am Altar steht und das Abendmahl empfängt.«

Zu seiner Gemeinde gehören rund 5000 der 21.000 Bewohner St. Paulis. Damit sind die evangelischen Christen die zweitgrößte Religionsgemeinschaft nach den Muslimen, die rund 30 Prozent ausmachen. Die meisten Bewohner St. Paulis sind konfessionslos.

»Leben in Vielfalt und im Respekt miteinander« - so beschreibt Wilm das Konzept seiner Gemeinde. Wegen dieser Offenheit kam der in Bad Segeberg aufgewachsene Theologe einst selbst nach St. Pauli. Als er und sein Partner sich vor 20 Jahren segnen lassen wollten, sei das nur in dieser Kirche gegangen. Seit 2002 ist er dort selbst Pfarrer.

Mit seinem Engagement für Menschen in Not hat er schon Filmemacher inspiriert. Der »Hafenpastor«, gespielt von Jan Fedder, kümmerte sich 2012 um eine junge Afrikanerin, die aus Deutschland abgeschoben werden soll und bei ihm Zuflucht findet.

Nicht lange nach Ausstrahlung des Fernsehdramas holte die Wirklichkeit den echten St.-Pauli-Pastor ein. Mehrere hundert über Lampedusa und Italien gekommene Afrikaner strandeten in Hamburg. Nach dem Ende des Winternotprogramms für Obdachlose standen sie im Frühjahr 2013 auf der Straße, erinnert sich Wilm. Der Kirchengemeinderat erlaubte 80 bis 120 von ihnen, in der Kirche zu kampieren. »Das war kein Kirchenasyl«, betont Wilm. Es habe sich um eine humanitäre, keine politische Aktion gehandelt.

Monatelang stritten die Unterstützer der Afrikaner und der Hamburger Senat um ein kollektives Bleiberecht für die gesamte Gruppe. Schließlich durften die Afrikaner in Hamburg bleiben, wenn sie sich bei den Behörden namentlich meldeten. »Lampedusa war eine Zerreißprobe«, sagt Wilm. Auf der einen Seite engagierten sich Gemeindemitglieder und viele private Helfer. Auf der anderen Seite sei es zu Konflikten mit vermeintlich linken Unterstützern gekommen. »Wir haben hier genug Leute gehabt, die waren nicht lösungsorientiert. Die wollten eskalieren. Die wollten, dass die Geflüchteten in ihrer Not letzten Endes auf der Straße bleiben, als kritisches Potenzial zum Symbol werden, gegen das Scheiß-System«, sagt Wilm.

Auf das Engagement seiner Gemeinde für die Afrikaner ist der Pastor stolz. »Lampedusa hat uns wahnsinnig geprägt«, sagt er. Die Art der Unterstützung sei später Vorbild für andere Initiativen geworden, die bei der Bewältigung der gestiegenen Flüchtlingszahlen im Herbst 2015 halfen. Schockiert hat den Pastor, dass er im April von Rechtspopulisten für einen Mord an Mutter und Kind im S-Bahnhof Jungfernstieg mitverantwortlich gemacht wurde. Der mutmaßliche Täter aus dem Niger hatte einst als Lampedusa-Flüchtling in seiner Kirche gewohnt.

Nach wie vor gilt: Wer an seine Tür klopft und um Hilfe bittet, wird nicht abgewiesen. Aber längst nicht allen kann er selbst helfen. Manchmal zünde er eine Kerze an und bete für alle, die ihm begegneten und die bald an seiner Tür stehen. Berührungsängste hat der Pastor nicht. Er kann mit der linken Szene sprechen, aber auch mit der Polizei. Anerkennung ist ihm dafür gewiss: Polizeiseelsorger Patrick Klein dachte kürzlich im G20-Sonderausschuss der Hamburger Bürgerschaft laut darüber nach, Wilm zum Leiter eines Runden Tisches zwischen Vertretern der Protestszene und der Polizei zu machen.

Wilm hat für alle »Sünder« Verständnis: »Ich sehe sie als Menschen, die ihre Menschenwürde haben, auch wenn sie sich unwürdig verhalten.« Das gilt auch für die mehrheitlich afrikanischen Drogendealer in einem angrenzenden Park, die unter Druck der Polizeistreifen stehen. In seiner Anfangszeit habe es nur einen Dealer in dem von Künstlern gestalteten Park Fiction gegeben. Man kannte sich, man konnte reden. »Der war noch zu retten.« Die heutigen Händler mieden jedoch den Kontakt, blieben anonym und verunsicherten die Nachbarschaft. dpa/nd

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