Zahnpastaleben

Mitja Vachedin denkt an seine russischen Jahre zurück - in einem wunderbar poetischen Deutsch

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Sein Leben, sagt er zu Beginn, bestehe aus drei Schichten - genau wie die Zahnpasta aus der Fernsehwerbung: »zehn Jahre sowjetische Kindheit, zehn Jahre wilder russischer Kapitalismus und zehn Jahre gemütliches Westdeutschland«. Es gibt ja inzwischen schon eine ganze Reihe von Büchern, die russische Autorinnen und Autoren in deutscher Sprache verfasst haben. Als Russlanddeutsche, als Juden oder sonstwie sind sie ins Land gekommen und suchen, mit ihren Talenten Fuß zu fassen.

Bekommen sie entsprechende Ratschläge oder wissen sie es aus sich heraus - das Erfolgsrezept heißt Unterhaltsamkeit. Sie müssen Verlagslektoren zum Lachen oder wenigstens zum Lächeln bringen, wenn ihre Manuskripte eine Chance auf Veröffentlichung haben sollen.

Wladimir Kaminer hat es vorgemacht: den verdutzten Blick auf Deutschland und die skurrilen Szenen aus Russland - erheiternd beides für sich und als Mischung unwiderstehlich. Auch der Debütroman von Mitja Vachedin ruft nach voll besetzten Sälen mit erwartungsfrohen Menschen, die sich von dem Mann am Mikrofon mitreißen lassen wollen. Aus vielen kleinen Geschichten besteht das Buch, jede für sich verspricht Außergewöhnliches. Autobiographisches, mit Fiktivem vermischt - das ist bei Vachedin natürlich auch auf Effekt getrimmt, vom Erfahrungshorizont her etwa vergleichbar mit den Büchern von Anna Galkina ,»Das kalte Licht der fernen Sterne« über ihre Jugend in der Sowjetunion und »Das neue Leben« über ihre Ankunft in Deutschland.

Aber Vachedins Texte sind nicht so grell, sind widerborstiger, was die Vorstellungen deutscher Leser vom Leben in der Sowjetunion und in Russland betrifft, mit viel mehr Zwischentönen.

Der Autor, Jahrgang 1982, verfügt über ein Deutsch, das vielschichtige Stimmungen tragen kann. Eine ungemein geschmeidige Sprache, die immer ein aufrichtiges sensibles Ich durchschimmern lässt. Auch er erzählt Schnurren - beginnend mit dem Großvater, der Seemann war und einen Anker auf seinem Grab haben wollte. Dass er aus einem mordwinischen Dorf stammte, sollte man in Erinnerung behalten, denn 155 Seiten später wird man Zeuge eines Gesprächs in einem deutschen Supermarkt über die »Mordunen«. Deutsche Ängste und Ignoranz, zusammengeballt in einer köstlichen Szene.

Was die 1990er Jahre für Russland bedeuteten, vielen hierzulande ist das ja gar nicht klar. Die Herrschaftszeit Jelzins hat mit dem Zerfall der Sowjetunion einen Niedergang ohnegleichen mit sich gebracht. Auf bitterernste Weise könnte Vachedin viel davon erzählen, aber er will ja, wie gesagt, das hiesige Publikum nicht überlasten. Wenn die geliebte Großmutter zwei schwere Kartoffelsäcke aus ihrem Dorf bei St. Petersburg zur Wohnung der Familie in die Stadt schleppt und der Ich-Erzähler lakonisch bemerkt, wie lebenswichtig die Kartoffeln waren, oder wenn er sich daran erinnert, wie er mit der Mutter durch den Schneesturm watete, weil bei einer entfernten Bahnstation deutsche Hilfspakete abzuholen waren, kann man sich eine Vorstellung machen.

Eine Junge, ein junger Mann, der nichts Besonderes für sich sucht, der einfach nur leben will, dabei mit Schwierigem zurechtkommt, sich Liebe wünscht, aber zu selten bekommt, und seine Herkunft nicht vergisst. So viel trägt er mit sich herum - mit einem solchen Erfahrungsschatz können sich deutsche Autorinnen und Autoren kaum messen. Er erzählt im Präsens; wir sind dabei.

Oft mischt sich momentanes Erleben mit Erinnerungen und Träumen, wie in der großartigen letzten Geschichte »Lapnik«. Das Wort war mir neu, gemeint sind flauschige Tannenzweige, die man braucht, wenn man im Winter in einem russischen Dorf jemanden beerdigen will. An einem 27. Dezember fährt der Ich-Erzähler in der S-Bahn. Er hat einen Weihnachtsbaum dabei, den er in der Schönhauser Allee gefunden hat (er braucht ihn ja erst fürs Neujahrsfest), dabei kommt er seltsamerweise im Dorf, beim Sarg der Großmutter, an. Beim Sammeln von Tannenzweigen im tief verschneiten Wald begegnet ihm Väterchen Frost und erzählt von Panzerabwehrkanonen MT-12. Er selber hat aber nur Schneebälle, um auf NATO-Panzer zu schießen.

Bei der Silvesterfeier in Babuschkas Hütte ist auf dem Bildschirm »Judas« zu sehen. Mit grünem, geschwollenem Gesicht kündigte Jelzin seinen Rücktritt an. »Das Bild wechselt. Zum ersten Mal erscheint sein magerer, wuscheliger Nachfolger … Er sagt: ›Lasst uns auf die Liebe trinken.‹« - Es braucht nichts hinzugefügt zu werden. Der Leser weiß, dass Russland unter Putin aus der Nervosität herausgewachsen ist. Wobei es bei seiner jüngsten Neujahrsansprache wieder leise Töne gab - über den Zusammenhalt in der Familie und, erstaunlich, dass nun der richtige Moment für eine Liebeserklärung sei.

»Engel sprechen russisch« - ach was, sie können in jeder Sprache schweigen. Mag einem jeden, der darauf hofft, so ein Engel zuteilwerden. Im Buch gibt es viele Bilder der Sehnsucht. Mitja Vachedin hat sich in Deutschland erst einmal mit Brotarbeit über Wasser gehalten und dann Politikwissenschaft, Slawistik und Drehbuchschreiben studiert, brotlose Fächer oft, wobei man sich Drehbücher von ihm gut vorstellen kann.

Heute arbeitet er als Redakteur bei der Deutschen Welle in Bonn, wo unsereins vielleicht antirussische Propaganda vermuten würde. Doch kann ich mir vorstellen, dass Mitja Vachedin auch dort die Stimmung seiner Landsleute genau trifft, denn dieses Russland, diese »schöne, arme gottverlassene Stadt« Sankt Petersburg - das ist ihm auch aus der Ferne lieb.

Mitja Vachedin: Engel sprechen Russisch. DVA, 218 S., geb., 18 €.

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