Absurd und mörderisch bis zum Schluss

Grauen und Grotestke: Gerhard Paul berichtet über die letzten Tage des »Dritten Reiches«

  • Florian Weis
  • Lesedauer: 5 Min.
Verhaftung der sogenannten Dönitz-Regierung durch die Briten
Verhaftung der sogenannten Dönitz-Regierung durch die Briten

Das »Deutsche Reich« kapitulierte in Etappen – in Norditalien etwa mit Wirkung am 2. Mai 1945, in Norddeutschland am 4. Mai. Diese Teilkapitulationen ersetzten aber nicht die von den Alliierten verlangte bedingungslose Kapitulation, die am 7. Mai im alliierten Hauptquartier in Reims unterzeichnet und am 8. Mai im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst wiederholt wurde. Doch endete die Nazi-Herrschaft damit noch nicht komplett, denn bis zum 23. Mai hielt sich in Flensburg-Mürwik im Nordwesten Deutschlands eine »Reichsregierung« unter Großadmiral Karl Dönitz, ehe die britische Besatzungsmacht, gedrängt von der UdSSR und den USA, auch den letzten Zipfel des »Deutschen Reiches« besetzte und Dönitz, Alfred Jodl und Albert Speer festnahm. Die letzte Phase des Nazi-Reiches war nun auch vorbei, eine Phase, in der sich Groteske und Grauen mischten.

Wie absurd diese »Regierung« war, zeigen viele Beispiele im neuen Buch von Gerhard Paul, emeritierter Professor für Geschichte und Didaktik an der Universität Flensburg: die täglichen morgendlichen Kabinettssitzungen auf dem Marinegelände in Mürwik; die inflationäre Ordensverleihung; das Verfassen erkennbar sinnloser Denkschriften und Planungspapiere, etwa über die Ausbildungsmaßnahmen in der Wehrmacht für das Jahr 1947. Eine lächerliche Farce war diese letzte »Reichsregierung« also, und doch grausam. Viele Soldaten, meistens Angehörige der Marine, wollten einfach nur nach Hause, nachdem sie vom Selbstmord Hitlers, der auf seine Weise desertiert war, und von den verschiedenen Etappen der Kapitulation gehört hatten. Doch was die Nazi-Spitzen sich selbst erlaubten, galt der gnadenlosen Militärjustiz noch lange nicht als legitim für einfache Soldaten. Und so wurden noch mindestens bis zum 11. Mai 1945 Todesurteile gegen »Deserteure« vollstreckt und verhängt, möglicherweise auch noch darüber hinaus. Bekanntlich konnte später auch der Ministerpräsident von Baden-Württemberg (1966–1978), Hans Filbinger, nicht erkennen, dass er unrecht gehandelt hatte, indem er als Marinerichter noch im März 1945 die Hinrichtung eines Deserteurs vorantrieb und vollstrecken ließ und noch im April 1945 ein Todesurteil verhängte.

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Hitler setzte Dönitz als seinen Nachfolger ein, der am Abend des 1. Mai die Deutschen via Rundfunk von Hitlers Tod in Kenntnis setzte, voller Pathos, fanatischer Führertreue und Lügen. Doch warum wurde Dönitz »Reichspräsident« – ein Amt, das seit Hindenburgs Tod im August 1934 nicht mehr besetzt worden war? Dönitz behauptete später, dies habe ihn selbst überrascht, sei er doch nie mehr als ein unpolitischer Soldat gewesen. Doch war Dönitz ein glühender Verehrer des »Führers«, der seine Marine als eine unbeugsame Teilstreitmacht betrachtete, die nie wieder Ausgangspunkt einer revolutionären Meuterei wie 1918 werden sollte. Genau in diesem nationalistischen Trauma von 1918 sieht Paul denn auch die Gründe für die unerbittliche Härte der Marinegerichte gegen »Deserteure« noch im Mai 1945.

SS-Chef Heinrich Himmler hoffte vergeblich, in Dönitz’ Regierung einen Posten zu erhalten. Am 5. Mai 1945 befahl er ein letztes Mal 60 höhere SS- und Polizeiführer sowie KZ-Kommandanten im Flensburger Polizeipräsidium zusammen – die größte Ansammlung von Massenmördern an einem Ort in der deutschen Geschichte, wie Paul treffend bemerkt. Himmlers folgende Flucht endete ebenfalls am 23. Mai in Lüneburg, wo er festgenommen wurde und sich umbrachte.

Doch warum ließen die Briten die Regierung in Flensburg noch im Amt, wie lächerlich gering ihr Einfluss auch war? Zwei Gedanken spielten dabei eine Rolle. Zum einen hoffte zumindest der britische Oberbefehlshaber in Nordeuropa, Bernard Montgomery, dass eine formal intakte deutsche Regierung helfen könnte, einen möglichen Vorstoß sowjetischer Truppen über die vereinbarten Besatzungszonen hinaus nach Schleswig-Holstein und nach Dänemark und damit an die Nordsee zu erschweren, bis die Westalliierten ausreichend eigene Truppen vor Ort hatten. Vor allem aber muss berücksichtigt werden, dass sich die Briten Anfang Mai 1945 einer gewaltigen Zahl von noch kampffähigen deutschen Truppen in Norwegen und Dänemark und einer noch größeren Zahl zurückflutender Soldaten, die sich der Gefangennahme durch die Rote Armee entziehen wollten, gegenübersahen.

Allein in Norwegen standen bei Kriegsende zwischen 300 000 und 400 000 Wehrmachtsangehörige, die nicht nur für den norwegischen und dänischen Widerstand, sondern auch für die in Nordeuropa zahlenmäßig weit unterlegenen Briten ein großes Problem darstellten. Sie ohne größeren Widerstand zu entwaffnen und nach Deutschland zurückzuführen, stellte eine große Herausforderung dar, die allerdings gelang. Weit über eine Million Wehrmachtssoldaten befanden sich nach Kriegsende in Schleswig-Holstein, vor allem in Eiderstedt, in Kriegsgefangenschaft.

Am 23. Mai hatten auch die Briten genug: »The strange show at Flensburg was over.« Bis auf Generaladmiral von Friedeburg, der sich selbst tötete, kam niemand bei der Besatzung von Mürwik ums Leben. Das Schlimmste, was den meist hochrangigen Verhafteten widerfuhr, waren peinliche Leibesvisitationen, um versteckte Waffen und, Himmler lässt grüßen, Giftkapseln zu finden. Dönitz war darob zutiefst empört, wie auch über die Beschränkung der Kleidung, die er in die Kriegsgefangenschaft mitnehmen durfte, auf nur einen Koffer. Am meisten aber erzürnte Dönitz, dass ihm sein Feldmarschallstab abgenommen wurde, was er als Verstoß gegen die Genfer Konvention betrachtete.

Alfred Jodl wurde in Nürnberg im Oktober 1946 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Albert Speer schaffte es erfolgreich, die Legende vom »unpolitischen Technokraten« zu spinnen und erhielt eine Haftstrafe von 20 Jahren. Der »unpolitische Soldat« Karl Dönitz wurde gar nur zu 10 Jahren verurteilt. Seine größte »Leistung« im Mai 1945, so argumentiert Gerhard Paul überzeugend, war es, die Legende von der »sauberen Wehrmacht« in Umlauf zu bringen, die mit den Verbrechen der SS und anderer Nazis nichts zu tun gehabt habe.

Gerhard Paul: Mai 1945. Das absurde Ende des »Dritten Reiches«. Wie und wo die Nazi-Herrschaft wirklich ihr Ende fand. WBG Theiss, 336 S., br., 28 €. 

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