Heiligkeit und Missetat

Rekorde für die Regionalliga: VfB Lübeck

Lübecker im Pokalhalbfinale 2004. Thomas Mann glänzte mal wieder durch Abwesenheit.
Lübecker im Pokalhalbfinale 2004. Thomas Mann glänzte mal wieder durch Abwesenheit.

Im Internet kursiert eine Deutschlandkarte, gegliedert nach den Einflussgebieten von Fußballfans, als wären die Fußballklubs eigenständige Kleinstaaten, deren Größe sich nach der Zahl ihrer Anhänger bemisst. Das Schalkeland ist da riesig, ebenso das Werderland. Interessant ist der Norden: HSV-Country, klar, aber links davon gibt es auch das kleine Reich des SV Meppen und rechts, bevor die Hansa-Zone beginnt, ist VfB-Gebiet. Oha, diesen Klub, den Verein für Bewegungsspiele Lübeck, gibt es also wirklich!

Bislang wirkte er mehr wie eine lustige Erfindung des nd-Redakteurs Klaus Ungerer. Dieser Mann hat nämlich viel Fantasie; unter anderem war er schon für die Satireabteilung von »Spiegel Online« tätig. Ungerer kommt aus Lübeck, ebenso wie Thomas Mann, auch er ist ein schillernder Stilist und Imaginist. Im nd-Feuilleton hielt er schon durchglühte Reden über die verkannte Macht des VfB in Norddeutschland. Gäbe es denn eine hanseatische Gerechtigkeit im Profifußball, würde vom HSV niemand sprechen, glaubt Ungerer, es hieße ganz schlicht: »Nur der VfB.«

Diese Ungerer’schen Auftritte glichen denen des Lodovico Settembrini in Thomas Manns vielleicht entrücktestem Roman »Der Zauberberg«, der auf die verwirrte Hauptfigur Hans Castorp einredet, um ihm die »Sonne der Aufklärung« zu vermitteln. Settembrini legt »eine schöne Wärme in seine Worte«, wenn er zur »Einigkeit in gewissen Grundgesinnungen« mahnt, wie Thomas Mann schreibt. Bei Klaus Ungerer besteht eine solche Grundgesinnung in der universalen Bewunderung des VfB.

Doch betrachten wir es einmal sportlich. Was sind denn die großen Erfolge dieser »Sonne des Fußballs«? Gewinner der Schleswig-Holsteinischen Landesmeisterschaft 1946/47, so, so, in der Regionalliga 1966/67 laut Wikipedia »die sechstbeste Defensive«, aha, und 1969 sogar in der Aufstiegsrunde zur Bundesliga befindlich, allerdings sieglos auf dem letzten (fünften) Platz gelandet, hm, hm. Der VfB rühmt sich, Rekordregionalligist zu sein, doch halt: Vier Jahre zweite Liga gibt es für die Statistik, oho. Und ein Halbfinale im DFB-Pokal, größter Erfolg ever, vor mehr als 20 Jahren verloren in Bremen, nach Verlängerung.

Spannender wird es, wenn man aufs Geld schaut. Das war öfter weg. Zweimal war der Klub insolvent, einmal beinahe: Ende 2024 erklärt sich der VfB wie »aus dem Nichts« (»11 Freunde«) für zahlungsunfähig. Der Etat, der bis zum Saisonende in der Regionalliga reichen sollte, ist schon im November alle, »die Ursachen sind bis heute nicht geklärt« (»11 Freunde«). Innerhalb von zwei Tagen soll eine Million Euro aufgetrieben werden, oh, nein, nein, nein; aber: klappt. Wie durch ein Wunder in der Vorweihnachtszeit. Deshalb gibt es diesen Verein immer noch, ganz real. Also ist kein »schmerzloser Exitus« als »splendider Abschluss«, wie Hofrat Dr. Behrens, Chefarzt im »Zauberberg«, sagen würde, zu notieren.

Das alles könnte man aber ganz ähnlich und doch ganz anders auch über den Lokalrivalen des VfB ausführen. Der trägt den anspruchsvollen Namen 1.FC Phönix Lübeck und steht in der Abschlusstabelle der Regionalligasaion 2024/25 auf Rang 5, zwei Plätze und zwei Punkte vor dem VfB. Und wer ist dazwischen, auf Platz 6? Der SV Meppen. Und dahinter, auf Platz 8? Die zweite Mannschaft des HSV. Was würde Settembrini im »Zauberberg« dazu sagen? »Gut und Böse, Heiligkeit und Missetat, alles vermengt! Ohne Urteil! Ohne Willen! Ohne die Fähigkeit zu verwerfen, was verworfen sei!« In Lübeck aber barmen sie: »Nach der Rettung ist nicht selten vor der nächsten Insolvenz« (»11 Freunde«).

Christof Meueler ist seit Schulzeiten Anhänger
des SV Darmstadt 98.

- Anzeige -

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.

- Anzeige -
- Anzeige -