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Zweiter Weltkrieg: Grenzenlose Unmenschlichkeit

»Ein Krieg wie kein anderer«: Jochen Hellbeck über den deutschen Über­fall auf die Sowjet­union am 22. Juni 1941

  • Jens Ebert
  • Lesedauer: 5 Min.
Wehrmachtssoldaten fallen in die Sowjetunion ein – brandschatzen und morden von Anfang an.
Wehrmachtssoldaten fallen in die Sowjetunion ein – brandschatzen und morden von Anfang an.

Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen uns von ihm ab und stellen uns fremd.» Wer hätte gedacht, dass die Eingangsworte in Christa Wolfs berühmtem Roman «Kindheitsmuster» auch noch 50 Jahre nach seinem Erscheinen von so aktueller Brisanz hinsichtlich unserer Sicht auf den Zweiten Weltkrieg und die Rezeption der NS-Diktatur sind. Jochen Hellbeck, Professor für Osteuropageschichte an der US-amerikanischen Rutgers University, hat ein Buch geschrieben, das – bedingt durch die widersprüchlichen Überlieferungen und unterschiedlichen Sozialisationen – für die einen Leser viel Neues bietet und für andere eine endlich wieder ausgesprochene Gewissheit bestätigt: «Ein Krieg wie kein anderer».

Nach dem Erscheinen seiner spektakulären «Stalingrad-Protokolle» lernte ich Jochen Hellbeck 2018 auf einer Veranstaltung der Bundeszentrale für politische Bildung kennen. Ich war erstaunt und erfreut, dass ein Westdeutscher so sensibel, fundiert, verständnisvoll und kritisch ausgeglichen über diese wichtige Schlacht des Zweiten Weltkrieges und vor allem ihre spätere Rezeption schreiben kann. Hellbeck erklärte mir, dass dies mit den Erfahrungen während seiner Jugendjahre in der DDR zusammenhänge. Ohne die Tätigkeit seines Vaters bei der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Berlin (Ost) wäre er mit vielen Themen und vor allem Sichtweisen nie in Berührung gekommen und hätte wohl später auch nicht Slawistik studiert.

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Im Vorwort seines neuen Buches bekennt er nun explizit, das Thema sei für ihn auch «persönlich bedeutsam … Als ich vierzehn Jahre alt war, zogen wir von Paris nach Ost-Berlin … Unser Garten grenzte beinahe an die Mauer eines riesigen sowjetischen Kriegerdenkmals … Viele Jahre später, nachdem ich Russisch gelernt, die Sowjetunion besucht und mich als Historiker auf ihre Geschichte spezialisiert hatte, wurde mir die Bedeutung dieser Gedenkstätte klar, und ich empfand Mitgefühl für die sowjetischen Männer und Frauen, die dort zu Tausenden begraben liegen.»

Hellbecks neues, mit zahlreichen Dokumenten bestücktes und reich illustriertes Buch zeichnet sich durch eine ausgewogene, wenn auch stets kritische Sicht auf den Krieg gegen die Sowjetunion nach dem deutschen Überfall am 22. Juni 1941 aus, wie sie selten in der Geschichtsschreibung zu finden ist. Ideologische Vorurteile, zurechtgezurrte Interpretationen oder Argumentationen aufgrund vorausgewählter Dokumente finden sich hier nicht. Der Autor ist um das ganze Bild bemüht. Dies kollidiert mit vielen westlichen Sichtweisen, aber auch mit einigen aus sowjetischen oder DDR-Publikationen. Die Ereignisse werden hier nicht wie in vielen (west)deutschen Geschichtsbüchern als Kampf zweier Diktatoren gleichgesetzt. Hellbecks Sicht bietet nicht weniger als eine wichtige Neubewertung des Zweiten Weltkrieges, auch gerade gegen neue Mythen heute.

Die Besonderheit des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion und die damit verbundene bislang nie gesehene Brutalität erwuchs aus der Tatsache, dass der Antikommunismus in der Form des Antibolschewismus die NSDAP seit ihrer Gründung geprägt hatte, ebenso wie Antisemitismus und Antislawismus. Diese ideologischen Positionen wurden von der NS-Propaganda mehrfach miteinander vermischt, gleichgesetzt oder verändert. Es gab Bedeutungsverschiebungen im Hinblick auch auf die europäischen Juden. Was man aktuell unter «Juden», «Kommunisten» oder «Kommissaren» verstand, wie man mit Kriegsgefangenen oder «Bandenmitgliedern» (Partisanen) umging, leitete sich jeweils aus der rücksichtslosen deutschen Kriegsführung und Besatzungspolitik ab. Der Gegner wurde zudem als «Schädling» bezeichnet, was eine Vernichtung mit chemischen Mitteln, also Gas, als adäquat assoziieren ließ. Dies hatte Auswirkungen in ganz Europa.

Es war gerade dieses brutale Handeln Deutschlands und, nicht zu vergessen, auch das seiner regionalen Handlanger, das in der Sowjetunion ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, jenseits der staatlichen Propaganda, hervorbrachte. Das drohende Schicksal, dass die gesamte Bevölkerung von den Deutschen versklavt werden sollte, schweißte zusammen. Hellbeck zitiert dazu einen bekannten, bitteren Witz aus der Ukraine von 1942: «Was hat Stalin in vierundzwanzig Jahren nicht erreichen können, Hitler aber in einem? – Dass wir die Sowjetherrschaft zu würdigen wissen.»

Der Autor erläutert: «Die Geschichte der Menschheit war nach Hitlers Auffassung weitgehend eine Naturgeschichte: ein unerbittlicher Kampf zwischen den Rassen, bei dem es um Überleben oder Vernichtung ging. Aufgrund ihrer angeborenen Eigenschaften waren die Deutschen, die Arier, zur ›höchsten Rasse als Herrenvolk‹ bestimmt.» Der Polenfeldzug sei trotz aller Grausamkeiten nur das Vorspiel zu Deutschlands Angriff auf die Sowjetunion gewesen. Dort bekamen die Massentötungen rasch eine neue, bislang unbekannte Dimension und Qualität, wie das Massaker an über 33 000 Juden, Männer, Frauen, Kinder, in Babyn Jar am 29./30. September 1941 bezeugt. Der mörderische Wahn der Aggressoren betraf sowohl die Soldaten der Roten Armee als auch die Bevölkerung. Die Zahl der in «Vergeltungsmaßnahmen» ermordeten Zivilisten nahm immer größere Ausmaße an.

Antikommunismus, Antisemitismus und Antislawismus bewirkten die besondere Brutalität des deutschen Krieges gegen die Sowjetunion.

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Faktenreich und differenziert geht Hellbeck auch auf die Rolle der Partisaninnen und Partisanen ein und rekonstruiert beispielsweise die Biografie von Soja Kosmodemjanskaja, die vielen ehemaligen DDR-Schülern wohlbekannt ist.

Der Krieg war auch einer der Propaganda und der Worte. Wie sehr Goebbels die «Wahrheit» zurechtbog, ist hinlänglich bekannt. Bezüglich der UdSSR betont Hellbeck: «Bemerkenswert ist die Sorgfalt, mit der viele Kriegsberichterstatter, allen voran Ehrenburg, ihre Quellen zitierten.» Der Schriftsteller verbat sich, deutsche Texte zu «bearbeiten», um sie propagandistischer zu machen. «Propagandisten auf deutscher wie auf sowjetischer Seite bezichtigten sich gegenseitig der Unmenschlichkeit. Doch es gab einen wichtigen Unterschied: Die Deutschen hatten ihrem rassenpolitischen Credo gemäß die Sowjetbürger von Anfang an als Untermenschen betrachtetet. Die Sowjetbürger hingegen zweifelten erst aufgrund der Gräueltaten der Invasoren an deren Menschlichkeit.» Hellbeck schreibt: «Das Ausmaß und die Grausamkeit der deutschen Gewalttaten in der Sowjetunion waren schockierend – selbst für Ehrenburg, der geglaubt hatte, alles zu wissen, was es über die Deutschen und den Faschismus zu wissen gab.»

Wer wissen möchte, warum der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion «ein Krieg wie kein anderer» war, muss dieses Buch lesen.

Jochen Hellbeck: Ein Krieg wie kein anderer. Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Eine Revision. S. Fischer, 688 S., geb., 36 €.

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