Warum war der Berg so wichtig?

Ein Gang durch Historial, Krypta und Schützengräben bringt die dramatische Geschichte des Hartmannswillerkopfs in den Vogesen auch Kindern näher.

  • Geraldine Friedrich
  • Lesedauer: 7 Min.

Der Achtjährige steht mit seinem Vater auf einer Anhöhe und schaut auf die grandiose Bergwelt der Vogesen. »Von hier hat man eine 180-Grad-Aussicht«, erklärt Gilbert Wagner, ehrenamtlicher Führer der Gedenkstätte Hartmannswillerkopf. Es ist idyllisch rund um den 956 Meter hohen Berg im Elsass. Das dichte Wegenetz lockt Besucher an, auch Kinder und Jugendliche sind dabei.

Wagner schlägt eine Mappe auf und zeigt seinem jungen Begleiter ein Foto, auf dem nur noch Baumstümpfe zu sehen sind. »So sah es hier vor hundert Jahren aus«, erklärt er. Vor mehr als hundert Jahren bot der »Menschenfresserberg« (französisch »Mangeur d’hommes«), wie der Hartmannswillerkopf auch genannt wird, ein albtraumhaftes Panorama: Endlose Reihen abgebrochener Tannen, die wie Zahnstocher aus der Erde ragen. Eine mit Kratern durchlöcherte kahle Landschaft, durchpflügt von einem 90 Kilometer langen Netz aus Schützengräben, überall Stacheldraht. Es ist ein Bild der Hölle auf Erden.

Der etwa 90-minütige Gang über das ehemalige Schlachtfeld, welches heute Freilichtmuseum ist, bietet harte Kontraste: Einerseits hat sich die Vegetation erholt, andererseits stoßen Besucher sekündlich auf Relikte des Ersten Weltkriegs. »Siehst du hier den Krater vor uns?«, wendet sich Wagner wieder an den Jungen. »Sind da Menschen gestorben?«, will der Junge wissen. »Nun ja, wenn gerade da jemand ging, als die Granate einschlug, ist von ihm nicht viel übrig geblieben«, erklärt der Gästeführer.

An einer Stelle liegen deutsche und französische Stellungen nur 15 Meter auseinander. Alte Bunker mit einer Öffnung für Periskope, die Erwachsene allenfalls gebückt betreten können, angerostete Horchposten, offene Nischen in den Schützengräben, in denen die Soldaten bei Minusgraden wochenlang ihre Nächte verbringen mussten und die Besucher heute noch betreten können. Wagner: »An so einem Tag wie heute sieht alles schön aus, doch die Schlachten fanden meistens im Winter statt. Die Soldaten starben nicht nur an ihren Verletzungen, sondern sie erfroren auch, weil sie angeschossen irgendwo lagen und sie niemand abgeholt hat. Oder sie starben auf dem Weg ins Krankenhaus.« Wagner zeigt ein Bild, auf dem Maultiere zu sehen sind. Fünf bis sechs Stunden dauerte der Transport von der französischen Seite auf den Hartmannswillerkopf im Sommer, im Winter doppelt so lang. Viele der oftmals sehr jungen Schwerverletzten - die jüngsten Soldaten waren 17 Jahre alt - starben auf dem Weg ins Tal. Der 67-Jährige erklärt im 1,70 Meter tiefen Schützengraben stehend, wie überlebenswichtig es war, dass der Kopf nicht herausragte, und schaut teils lächelnd, teils skeptisch auf den Vater des Jungen, der mit seinen 1,97 Metern wohl schlechte Karten gehabt hätte. Wagner: »Vor hundert Jahren waren die meisten Menschen halt doch noch ein Stückchen kleiner.«

Der Hartmannswillerkopf ist eine der vier nationalen Gedenkstätten Frankreichs, die an den Ersten Weltkrieg erinnern, und existiert schon seit 1932: In jenem Jahr wurde bereits das erste Monument mit einer unterirdischen, heute noch schlicht-schönen Krypta auf dem Col du Silberloch eröffnet. Sie liegt an der Passstraße D431, von der aus man direkt auf das nur wenige hundert Meter entfernte Schlachtfeld blickt. Der Gebäudeeingang der Krypta ist umrahmt von zwei Engeln, eine Treppe führt hinab zu einer kühl temperierten Gedenkhalle. Der enge Gang hinab ist der Architektur eines Schützengrabens nachempfunden. In der Mitte der Gedenkhalle mit drei Altären, einem katholischen, einem protestantischen und einem jüdischen, ruhen unter einer runden, mehrere Meter breiten Metallplatte die Gebeine vieler gefallener Soldaten. »Heißt das, hier liegen nur Beine?«, will das Kind wissen. »Mit Gebeinen meint man alle Knochen«, erklärt sein Vater.

Wieder an der frischen Luft zeigt Wagner in den angrenzenden Wald und erklärt, dass sich hier einer von insgesamt 30 Friedhöfen befand. »Die Soldaten wurden damals in ihren Kleidern, allenfalls in einer Plane beerdigt. Das konnte man nicht so lassen«, erläutert Wagner. Sie wurden exhumiert, in Särge gebettet, anschließend in Einzelgräbern bestattet, in besagter Gedenkstätte beerdigt oder auf Staatskosten zu ihren Angehörigen nach Hause gebracht.

Die im Jugendstil erbaute, mittlerweile mehr als 80 Jahre alte Krypta steht nur wenige Meter entfernt von dem erst 2017 eröffneten Historial, dessen Grundsteinlegung bereits 2014 unter großem Medienecho in Anwesenheit der damaligen Staatsoberhäupter Joachim Gauck und François Hollande erfolgte. Mindestens ebenso viel Echo generierte die Eröffnung des schicken Ausstellungsgebäudes in Sichtbetonoptik mit Frank-Walter Steinmeier und Emmanuel Macron am 10. November 2017. »Vier Staatsoberhäupter in drei Jahren, das war sehr wichtig für uns«, sagt Wagner. Das 4,7 Millionen Euro teure Historial wartet mit allem auf, was moderne Ausstellungspädagogik heute bietet: interaktive Elemente, etwa Listen mit Namen der gefallenen Soldaten, in denen sich auch nach dem eigenen Familiennamen suchen lässt, Originalexponate wie Uniformen und Granaten in allen Größen, stark vergrößerte Fotos vom Schlachtfeld in 3D, für die man am Eingang Brillen erhält, sowie eigens für die Ausstellung gefertigte Filme, in denen Soldaten aus dem Off vom harten Leben auf dem Hartmannswillerkopf in Ich-Perspektive erzählen. Die Passagen sind echt und stammen aus Briefen oder Berichten von Überlebenden. Beeindruckend: Ein Wandteppich des deutschen Künstlers Thomas Bayrle zeigt eine Pietà, die sich bei näherem Hinsehen aus Tausenden Schädeln zusammensetzt.

Die Rede ist häufig von 30 000 Toten, doch das ist falsch. »Mit 30 000 meinen wir die Zahl der Opfer, darin enthalten sind neben den Toten auch Vermisste, Verletzte und Kriegsgefangene«, erläutert Wagner. Tatsächlich starben auf dem Hartmannswillerkopf 8000 bis 9000 Soldaten. Im Vergleich zu Schlachten wie etwa in Verdun mit über 300 000 Toten klingt das wenig, hierher schickte man Soldaten, damit sie sich etwas »ausruhen« konnten, berichtet Wagner. Trotzdem steht der Hartmannswillerkopf für die Sinnlosigkeit eines Stellungskriegs, in dem Deutsche gegen Franzosen ein gutes Jahr um nur wenige paar Quadratmeter Land kämpften. Zwischen Dezember 1914 und Januar 1916 wechselte die Anhöhe acht Mal ihren Besitzer.

Da stellt das Kind die entscheidende Frage: »Was ist denn so Besonderes an dem Berg?« Warum kämpften Deutsche und Franzosen auf Kosten so vieler Leben um diesen Ort? Wagner: »Es fing mit ein paar französischen Aufklärern an, die auf dem Hartmannswillerkopf im Schnee Stiefelspuren von Deutschen fanden.« Damals befand sich der Berg auf reichsdeutschem Terrain, sehr nah an der Grenze zu Frankreich. Die strategische Bedeutung des pyramidenförmigen Bergs lag sowohl in seiner Nähe zum französischen Thann-Tal als auch im perfekten Ausblick auf die damals reichsdeutsche Eisenbahnlinie zwischen Mulhouse und Colmar. Aus deutscher Perspektive konnte derjenige, der den Hartmannswillerkopf besetzt, schwere Geschütze Richtung Eisenbahnlinie dirigieren. Aus französischer Perspektive bot ein von Feinden besetzter Hartmannswillerkopf ein Einfallstor in das enge Tal der Thann. Fazit: Die Franzosen hatten Angst um ihr Tal, die Deutschen hatten Angst um ihre Eisenbahnlinie. Anfang 1916 endeten die Schlachten auf dem Berg, beide Seiten einigten sich: Die Deutschen besetzten den Nordosten, die Franzosen den Südwesten bis zum Kriegsende. Am Ende war der Hartmannswillerkopf französisch - und er ist es noch heute. Auch Wagners Großonkel kämpfte hier: »Er lebte nach dem Krieg nur wenige Kilometer entfernt, hat aber den Hartmannswillerkopf nie mehr betreten. Für mich aber war als acht-, neunjähriger Junge klar: Wenn ich einmal groß bin, möchte ich hierher.«

Infos

Öffnungszeiten:
Krypta ab Karfreitag sonn- und 
feiertags geöffnet, zwischen 1. Mai und 11. November täglich von 9.30 bis 12.30 sowie von 13.45 bis 17.30 Uhr. Die Ausstellung im 
Historial ist von Karfreitag bis 
Mitte November montags bis samstags 9.30 bis 17.30 Uhr durchgehend geöffnet, an Sonn- und Feiertagen sowie im Juli und August bis 18 Uhr.

Gruppenführungen:
Eine Führung dauert 2,5 Stunden und kostet unabhängig von Alter oder Gruppengröße 95 Euro. Enthalten ist die Besichtigung der Ausstellung im Historial, der Gedenkstätte inklusive Krypta, der Gang über den Friedhof und über das Schlachtfeldgelände. Führungen auf Deutsch, Französisch und Englisch möglich. Gratisführung für Einzelpersonen findet jeden Mittwoch im Juli und August ab 
14 Uhr statt. Treffpunkt ist der Eingang der Krypta.

Mehr Infos:
Tel.: +33 (0) 389 20 45 82
http://memorial-hwk.eu
Das Personal spricht sehr gut Deutsch.

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