Wahnsinn und Entsetzen in den Bergen

Vertauschte Rollen: Führungsstreit nach den Alpenetappen im Favoritenteam und Toursprinter im Abseits

  • Tom Mustroph, Valence
  • Lesedauer: 4 Min.

Raymond Polidour schüttelt den Kopf, als er auf dem Bildschirm im Village der Tour de France noch einmal die entscheidenden Szenen der zwei letzten Alpenetappen betrachtet. »Oh nein, das ist nicht der Froome, wie wir ihn kennen. Er kommt bei seinen Attacken nicht mehr richtig weg. Wenn es dann doch klappt, wird er wieder eingefangen. Und am Ende gewinnt immer Thomas, sein Helfer«, fasst der 82-jährige Radsportveteran das Geschehen zusammen. »Poupou«, acht Mal auf einem Tour de France-Podium, niemals aber auf der obersten Stufe, könnte nun Augenzeuge werden, wie ein anderer klassischer Zweiter erstmals Erster wird.

Geraint Thomas, viele Jahre Edelhelfer von Chris Froome, steht nach zwei Etappensiegen in den Alpen ganz oben im Klassement. »Es sind verrückte Tage hier. Mittwoch in La Rosière war schon fantastisch mit dem Etappensieg und dem Gelben Trikot. Jetzt folgt noch Alpe d’Huez - der blanke Wahnsinn«, meint der Waliser und scherzt: »Wenn es nach mir ginge, könnten wir heute direkt nach Paris fahren.« Den Gefallen tut ihm die Tourleitung nicht. Es stehen schließlich noch die Pyrenäen an. Thomas’ Humor belegt aber, wie wohl er sich in Gelb fühlt - und wie sehr er mit dem Gedanken spielt, in dieser Trikotfarbe auch nach Paris zu kommen.

Gelb ist eigentlich die Standardfarbe seines Bosses Froome. Der britische Kenianer wollte auch zu gern die gewohnten Verhältnisse wiederherstellen. Deshalb attackierte er in Alpe d’Huez. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen und dem Ausstoßen von Buhrufen beobachtete das Publikum am Radsportberg auf den großen Monitoren, wie Froome erst den Lokalhelden Romain Bardet und dann Ausreißer Steven Kruijswijk einholte. Froomes Weg zum ersten britischen Etappensieg in Alpe d’Huez und ins Gelbe Trikot vereitelte Tom Dumoulin. Als der Niederländer sich und die wenigen verbliebenen Favoriten immer näher an Froome herankurbelte, brandete Applaus auf. Die Buhwelle setzte erst wieder ein, als sich im Vierersprint der zweite Sky-Fahrer, eben Thomas, durchsetzte.

Im Erzeugen von Unmutsäußerungen sind die Sky-Fahrer in Frankeich vereint. Thomas büßt hier offenbar für Froomes Salbutamol-Affäre mit. Für das angefeindete Team ergeben sich immerhin interessante Optionen - und ein Kohärenzproblem. Froome ist derzeit von Platz eins fast so weit entfernt wie im Jahr 2012. Da führte sein damaliger Kapitän Bradley Wiggins nach den Alpen und vor den Pyrenäen mit 2:05 Minuten Vorsprung auf ihn. Der Mann vorn war als Chef gesetzt. Froome allerdings hatte den Chef auch attackiert. Jetzt liegt er 1:39 Minuten hinter Thomas. Wechselt deshalb die Chefrolle? »Es ist interessant, dass Thomas zwei Mal Zeit auf Froome herausgefahren hat«, meint Iwan Spekenbrink. Der Chef des Dumoulin-Rennstalls Sunweb glaubt aber nicht, dass Sky die Rollen neu verteilt. »Sie sind Profis. Sie kennen ihre Prioritäten. Und die erste ist, dass sie als Team die Tour gewinnen«, sagt der Niederländer gegenüber »nd«. Auch Sky selbst betont die alte Rollenverteilung. »Wir haben abgesprochen, dass wir unsere Ressourcen Froomey zur Verfügung stellen«, erzählt Nicolas Portal, sportlicher Leiter von Sky, »nd«.

Egan Bernal, der junge Kletterer bei Sky, sprach allerdings von »zwei Kapitänen«, die er unterstütze. Gibt es doch schon einen Taktikwechsel? »Falls es zu Rivalitäten kommt, dann wird es für uns Konkurrenten nicht unbedingt einfacher, denn es sind ja weiter zwei sehr starke Fahrer. Aber es wird weniger optimal für Sky«, prognostiziert Spekenbrink. Neben dessen an Position drei platzierten Schützling Dumoulin sollte vor allem vom Gesamtfünften Bardet, dem Movistar-Duo Mikel Landa und Nairo Quintana (6. und 8.) sowie dem überraschend starken Lotto-Paar Primoz Rogliz und Steven Kruijswijk (4. und 7.) Gefahr für Sky ausgehen.

Das Spektakel in den Bergen sorgte für eine negative Selektion unter den Sprintern. Nach Marcel Kittel und Mark Cavendish stiegen am Donnerstag noch André Greipel und die zweifachen Etappensieger dieser Tour Fernando Gaviria und Dylan Gtoenewegen aus. Greipel beklagte die Schwere des Kurses. Sein Teamchef Marc Sergeant relativierte das aber. »Die Alpenetappen waren nicht schwerer als sonst. Nur das Zeitlimit war knapp bemessen«, sagt der Belgier »nd«. Der Wegfall der Konkurrenz bedeutet nicht zwingend einen Durchmarsch für Weltmeister Peter Sagan. Mit dem Franzosen Arnaud Demare ist noch ein weiterer Topsprinter im Peloton. Und auch John Degenkolb mischt noch mit.

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