Kriegsgebiet

Paul Theroux auf der Reise nach »Mutterland«

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Über zwei Dinge wundere ich mich im Rückblick doch sehr: Dass Paul Theroux es tatsächlich geschafft hat, sein Thema Fluch und Segen einer selbstfixierten Familie über 650 Seiten unter Spannung und auf Unterhaltungskurs zu halten. Und dass es sein Augenzeugenbericht aus dem Kriegsgebiet Familie in den Bestsellerlisten noch nicht weiter nach oben geschafft hat. »Mutterland« hätte es verdient. Eine so genau beobachtete und berührende Schilderung der Gemeinheiten und Verlogenheiten innerhalb einer Großfamilie gab es lange nicht.

Paul Theroux (1941 im Ostküstenstaat Massachusetts geboren, heute auf der Boston vorgelagerten Atlantikhalbinsel Cape Cod und auf Hawaii lebend) hat weltweit Bekanntheit vor allem mit Reisebüchern erlangt, z.B. »Tief im Süden«, »Der alte Patagonien-Express« oder »Ein letztes Mal in Afrika«. Mit seiner Reise nach »Mutterland« nun unternahm er eine Expedition, die gewagter und gefährlicher war als all seine vorangegangenen Ausflüge in unbekannte Ecken der Welt. Solch eine Reise tritt einer - wenn überhaupt - nicht in jungen Jahren an, sondern in der Spätschicht. Zur Selbstvergewisserung, als Bilanztour, zur Abrechnung.

Der Ich-Erzähler Jay, Reiseschriftsteller wie Theroux, entschließt sich zur »Geschichte meiner langjährigen Erfahrung als Reisender in Mutterland«, als die Familie vor einem Einschnitt steht. Der Vater liegt im Sterben, die Mutter - Anfang achtzig - ruft die sieben verbliebenen Kinder nach Hause, unter ihnen Jay. Der hat aus der Familie all die Jahre für seine Schriftstellerei kaum Anerkennung, jedoch jede Menge Ungläubigkeit geerntet, womit mancher sein Leben gestalten zu können meint. Schon zu seinem ersten Roman hatte ihm Mutter auf puderblauem Luftpostbriefpapier streng mitgeteilt: »Ich fand es kein bisschen lustig, sondern nur unanständig, primitiv und vulgär … Niemand wird aus diesem Buch Gewinn ziehen. Alles Liebe, Mutter«.

Mit Dads Tod blüht Mutter auf. Sie kommandiert die erwachsenen Kinder, die zumeist wie die zwei verheirateten Schwestern oder der übergewichtige Krankenpfleger Hubby in der näheren Umgebung leben, zu denen aber auch ein stets verreister Diplomat, ein hohes Versicherungstier und ein weiterer Schriftsteller, der Literaturwissenschaftler Floyd, gehören. Sie verteilt kalkuliert Zuneigung, regiert mit Teile und Herrsche und sorgt so dafür, dass diese Erwachsenen erst im Alter, wie Jay zu Beginn festhält, ihre wahre Kindheit ausleben - als »komische Käuze unter der Fuchtel ihrer selbstherrlichen Mutter«. Mutters wichtigste Waffe in den folgenden Jahren auf dem Weg zu ihrem hundertsten Geburtstag ist das Telefon. »Jeder von uns war aufgefordert, sie einmal am Tag anzurufen. Franny und Rose riefen sie zwei- oder dreimal am Tag an. Das summierte sich zu fast hundert Telefonanrufen in der Woche. Keiner der Anrufe war aufrichtig, in keinem wurde die Wahrheit gesagt, doch alle waren notwendig, um Mutter zu versichern, dass sie immer noch unsere Mutter und das Familienoberhaupt war - und dass wir sie liebten, obwohl das Wort ›Liebe‹ in diesem Kontext bedeutungslos war ...«

Dies ist der Ton, der das Buch bestimmt. Egal ob es sich um belanglos Alltägliches oder Geschwisterbeziehungen, Kindheitserinnerungen oder Jugendverirrungen, Geld, Geiz und Gier, Familienfeiern und runde Geburtstage, Beteuerungen und Auseinandersetzungen auf der Ebene von Mutter und Kind(ern) handelt. »Wir sind eine Familie«, zitiert Jay ein Wort von weltweiter Währung, das Leute selbstbewusst lächelnd vor sich her tragen. Jay dagegen denkt: »Gott stehe euch bei.« Doch keine Sorge, der Erzähler ist kein Misanthrop, nicht der Menschenhasser und erst recht nicht der selbstgerechte Menschenfeind, der sich sarkastisch auf Kosten Dritter berauscht. Auch der Erzähler nimmt sich hart ran, bedenkt man allein die Infamie, mit der Floyd einen Roman des Bruders niedermacht und seinen Verfasser gleich mit rufmordet. Jay wird so aber einer Voraussetzung gerecht, die Orwell für eine gute Autobiographie genannt haben soll: Einer zu Papier gebrachten Lebenserinnerung sei nur dann zu trauen, wenn sie Beschämendes auch über den Verfasser enthüllt.

Die Offenheit, mit der Theroux den Mythos der »heiligen« Familie beleuchtet, macht den Reiz dieses Romans über ein Uraltthema aus - über die Heuchelei in Familien, über Unaufrichtigkeit, die den Mantel der Ehrlichkeit trägt, über das Bloßstellen und Verächtlichmachen in trauten Heimen. Im fortgeschrittenen Alter aller Beteiligten bekennt Jay: »Jedem war klar, dass er bei jeder Gelegenheit schadenfroh verspottet wurde - für das Versagen seiner Kinder oder die dumme Bemerkung seiner Ehefrau. Und wenn man Mutter ein Geschenk mitgebracht hatte, dann wurde über das Geschenk gespottet, und vielleicht war es sogar Mutter, die dazu anstiftete, weil sie die Augen verdrehte oder vielsagend lächelte, während sie das Geschenk in ihren Klauenfingern skeptisch hin und her wendete. Und doch erschien mir all das als normal. Diese ewigen Kämpfe kamen mir irgendwie wahrer, richtiger vor als die Harmonieseligkeit, die in einigen anderen Familien herrschte.«

Paul Theroux: »Mutterland«, Roman, aus dem amerikanischen Englisch von Theda Krohm-Linke. Hoffmann und Campe, 653 S., geb., 28 €.

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