Hat Herr A. versucht, der Katze ein Bein abzuschneiden?

Der Schriftsteller Klaus Ungerer findet in seinen Gerichtsreportagen stets die richtigen Worte. Am Sonntag liest er auf Schloss Biesdorf

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 4 Min.

Nun könnte man sagen, es handele sich hier um schnöde Gerichtsreportagen. Aber was ist damit gesagt? Dass einer mit einem Stift und einem Notizblock in der Hand, nach Art des ganz alten Journalistenhandwerks, in die Welt hinaus- bzw. ins Kriminalgericht hineinzieht, um einem Gerichtsprozess beizuwohnen und hernach die Geschichte der dort verhandelten Straftat möglichst faktengetreu nachzuerzählen: Herr A. soll plötzlich das rostige Küchenmesser an sich genommen und damit begonnen haben, wie von Sinnen auf Frau A., sein hilfloses, schreiendes Opfer, einzustechen. Frau A. überlebte. Das Paar kümmert sich seit vielen Jahren gemeinsam um B., eine dreibeinige Katze.

Wir erfahren, was geschehen ist, und doch erfahren wir überhaupt nichts. Nichts jedenfalls, was über den nackten Tathergang hinausginge. Was erfährt man hier über die Beteiligten? Ist es möglicherweise von Belang, dass der bis dahin vollkommen unbescholtene Herr A. schon sein Lebtag ein fanatischer Philatelist ist? Hat Frau A. möglicherweise im Suff Herrn A.s gesammelte Briefmarkenalben angezündet? Oder verhält es sich ganz anders? Hat Herr A. aus Gründen, die wir noch nicht kennen, aber gewiss noch erfahren werden, mal wieder versucht, der Katze (B.) ein weiteres ihrer Beine abzuschneiden, was wiederum sehr rasch Frau A. auf den Plan rief?

Den oben geschilderten Fall (Herr und Frau A., Katze B.) gab es nie, ich habe ihn erfunden. Veranschaulicht werden soll hier nur, dass Klaus Ungerers Gerichtsreportagen liebevoll geschriebene Minidramen sind und manchmal auch mehr als das, nämlich eine Art True-Crime-Gegenwartsliteratur. Ungerer hat ein unschätzbares Talent, das nicht viele haben: Er sucht und findet die richtigen Worte.

Er kommt ohne das Graubrot der Journalistenphrasen und ohne ödes Aneinanderreihen überflüssigen Datenmaterials aus. Seine genau be᠆obachtende Reportageliteratur ist eine, die die Welt der Justiz ebenso ausleuchtet, wie sie die Halbwelt derer in den Blick nimmt, die im Leben nicht das ganz große Los gezogen haben, deren Dasein größtenteils ohne ihr eigenes Zutun verläuft oder denen nicht selten ihre Verzweiflung oder ihre Ratlosigkeit den Gedanken zu einer kriminellen Tat eingibt.

Ungerer hat selbst viel gelesen, viel Literatur aus der Weimarer Zeit, Tucholsky, Fallada, Arnold Zweig. Als Jugendlicher habe er, wie er sagt, »den ganzen Tucholsky gefressen«. Es ist nicht auszuschließen, dass der Tucholsky ihm auch ein wenig als Vorbild diente und dass Ungerer intuitiv oder vorsätzlich dessen Blick auf diejenigen übernommen hat, die man die kleinen Leute nennt. Es ist ein nachsichtiger, wenn nicht liebevoller Blick. Dass es sich bei dem sogenannten Straftäter, der etwas mehr oder weniger Schlimmes ausgefressen hat oder der in das sogenannte Verbrechen, das man ihm zur Last legt, mehr hineingestolpert bzw. hineingerutscht ist, um einen arglosen Menschen wie dich und mich handelt, einen, der möglicherweise nicht mehr weiter wusste, den das Leben schwer gebeutelt oder der zumindest ein eher schmales Stück vom Lebenskuchen abbekommen hat, das verliert Ungerer nie aus dem Auge. Die Empathie des Lesers gilt häufig dem seinem Urteil entgegensehenden Straftäter. Und natürlich entgeht Ungerer auch nicht die Tatsache, dass die Gesellschaft, in der wir leben, oft alles andere als eine gerechte ist.

Über einen der Delinquenten, die vor Gericht stehen und aus denen Ungerer manchmal eine Art Quintessenz ihres Daseins zu destillieren sucht, schreibt er einmal den rundum schönen und wahren Satz: »Den ihm anvertrauten Lebensentwurf hat er gemäß der ihm bekannt gewordenen Erwartungen zu erfüllen versucht.«

Ungerer war, zu Schirrmachers Zeiten, kurzzeitig Redakteur der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, später war er für die mittlerweile eingestellte Spiegel-Online-Satirewebseite »SPAM« mitverantwortlich. Seine Gerichtsreportagen - die besten von ihnen sind mittlerweile in zwei Büchern versammelt - erscheinen seit vielen Jahren unregelmäßig in der »FAZ«, darüber hinaus schreibt er unter anderem für die »Welt«, »Titanic«, den »Humanistischen Pressedienst«, das »neue deutschland« und den »Freitag«, wo er seit einiger Zeit als Textchef für die Lesbarkeit des Blattes verantwortlich ist.

»Titanic«-Redakteur Mark-Stefan Tietze befand einmal, dass die Lektüre von Ungerers Reportagen zu der Erkenntnis führen kann, wie empathiefrei und schlecht manch andere Zeitungsprosa geschrieben ist: »Sollte ich demnächst mal in Berlin wegen einer einigermaßen peinlichen Angelegenheit vor Gericht stehen, darf kein anderer über den Prozess schreiben als Klaus Ungerer. Niemand versteht sich in kriminelle Gemüter in all ihrer Ambivalenz und Banalität so einzufühlen wie er.«

Klaus Ungerer: Der weinende Mörder. 28 Straffälle aus dem Berliner Kriminalgericht Moabit. Verlag Bild und Heimat, 192 S., brosch., 12,99 €.

Klaus Ungerer: Was weiß der Richter von der Liebe? 24 Straffälle aus dem wahren Leben. Tropen-Verlag, 141 S., brosch. Derzeit nur antiquarisch erhältlich.

Lesung: 5. 8., 14 Uhr, Heino-Schmieden-Saal im Schloss Biesdorf, Alt-Biesdorf 55, Marzahn-Hellersdorf.

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