Ausharren im Wüstenstaat

Das bitterarme Niger ist Transitland für Flüchtlinge aus Libyen

  • Odile Jolys, Niamey
  • Lesedauer: 4 Min.

Familie Diallo sitzt in ihrer Basthütte unter einem Plastikdach, das auf Metallpfeilern ruht. Die Temperaturen steigen an diesem Nachmittag in Niamey auf über 40 Grad. Ein paar Schafe knabbern an dürrem Gras, Bonbons werden zum Verkauf angeboten. Vor sechs Jahren floh die Familie vor der Gewalt von Dschihadisten aus Mali und fand wie 57 000 andere Landsleute Zuflucht im Wüstenstaat Niger. Das arme westafrikanische Land mit 19 Millionen Einwohnern ist zum Zufluchts- und Transitland für über 100 000 Flüchtlinge geworden. Sie kommen auch aus Libyen.

Niger nimmt jene Flüchtlinge auf, die das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) aus Libyen evakuiert. Seit dem Sturz des Gaddafi-Regimes und dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung 2011 herrschen in Libyen schlimme Verhältnisse. Migranten und Flüchtlinge riskieren Willkür, Gewalt aller Art, Erpressung und Versklavung.

Bisher sind 1536 Flüchtlinge - viele Somalier, Eritreer und Sudanesen - mit den humanitären Flügen der UN nach Niger gekommen. Aber noch 50 000 stecken weiter in Libyen fest. Dass Flüchtlinge aus Libyen nach Niger evakuiert werden, ist das Ergebnis von Verhandlungen zwischen dem UNHCR, einigen europäischen Staaten und Kanada sowie der Regierung Nigers. Anstatt ihr Leben bei der Überquerung des Mittelmeers zu riskieren, sollen besonders schutzwürdige Flüchtlinge eine sichere Aufnahme finden.

Niger hat seine Bereitschaft erklärt, Flüchtlinge aus Libyen zu beherbergen, wenn europäische Länder bereit sind, sie aufzunehmen. Frankreich, die Niederlande, Schweiz und Schweden haben bereits Flüchtlinge aufgenommen. Deutschland hat 300 Plätze zugesichert, 100 Fälle wurden schon an die deutschen Behörden zur Untersuchung übergeben. Das Verfahren ist erst angelaufen.

Alessandra Morelli, die Chefin des UNHCR in Niger, bekräftigt ihren Dank an die Regierung des wesfafrikanischen Staates: »Das ärmste, aber großzügigste Land der Welt.« Im Durchschnitt muss ein Nigrer von einem US-Dollar am Tag leben, was kaum zum Leben reicht. Im UN-Ranking der Lebensqualität steht das Land ganz unten auf Platz 187 von 188 Staaten.

Die Herausforderungen sind denn auch groß, zumal auch etwa 108 000 Nigerianer nach Niger geflüchtet sind, aus Angst vor den Angriffen der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram. Aber islamistische Milizen verüben auch Attentate in Niger selbst, 140 000 Menschen gelten als Flüchtlinge im eigenen Land. Um für Sicherheit im Land und in der Sahelregion zu sorgen, gibt Niger 21 Prozent seines Haushalts für Verteidigung aus.

»Das Engagement für die Sicherheit ist groß«, sagt Morelli, »aber das Geld für Schulen und Gesundheit fehlt, dabei sind das wichtige Schlüssel für die Entwicklung.« Es sind nicht nur Flüchtlinge, Niger ist auch ein Transitland für arbeitsuchende Mi-granten, die Richtung Algerien und Libyen ziehen - oder zurückkommen. Migranten flüchten vor Misshandlungen in Libyen oder werden aus Algerien ausgewiesen. Bei manchen Menschen in Niger regt sich Unmut über die Zuwanderer.

Sieben Wochen lang hatte die Regierung Nigers im Frühjahr die humanitären Flüge der UNHCR gestoppt. »Das Wichtigste zur Zeit ist, dass alles im Fluss bleibt: Wenn Flüchtlinge kommen, muss die Umsiedlung der Flüchtlinge auch stattfinden«, sagt Morelli entschieden. Elf Länder haben insgesamt 3781 Plätze für Flüchtlinge zugesagt. Aber das Prozedere in den Aufnahmestaaten ist langwierig. Bisher fanden erst 385 besonders schutzwürdige Flüchtlinge Aufnahme in Nordamerika oder Europa.

Mehr als 1300 Menschen müssen noch im Transit ausharren. »Unsere Kapazitäten in Niger sind begrenzt. Wir haben in Niamey 22 Häuser, die zwischen 60 bis 80 Personen aufnehmen können, und sie sind alle voll«, sagt die UNHCR-Chefin in Niger besorgt.

Niger sorgt sich auch, dass die Präsenz internationaler Organisationen eine Sogwirkung auf Flüchtlinge entfalten könnte. So leben schon fast 2000 Menschen aus dem ostafrikanischen Sudan in der Stadt Agadez im Norden. Einige stammen aus der sudanesischen Konfliktregion Darfur, andere aus Camps im Tschad. »Sie haben die Flüchtlingslager verlassen, weil sie dort keine Perspektive sahen«, sagt Morelli. Der Unmut in Agadez hat die Regierung Nigers veranlasst, im Mai 100 Sudanesen nach Libyen auszuweisen.

Niger allein kann nicht alle 50 000 Flüchtlinge, die in Libyen feststecken, aufnehmen. »Wir diskutieren mit weiteren Ländern, unter anderem mit Burkina Faso, um dort Aufnahmezentren zu eröffnen«, versichert Morelli. »Es bleibt eine dringliche Aufgabe, die Evakuierung aus Libyen voranzutreiben.« Und es müssten auch Lösungen für die Flüchtlinge gefunden werden, die keine Chance auf Aufnahme in Nordamerika oder Europa haben. epd/nd

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