Arndt von Stolzenberg (1937)

  • Walter Kaufmann
  • Lesedauer: 2 Min.

Von der Sexta bis zur Prima füllten sie die Aula, und viele trugen die braunen Hemden und die kurzen schwarzen Hosen der Hitler-Jugend. Quer über der Stirnwand hinterm Podium prangte die Fahne mit dem Hakenkreuz. Die Studienräte waren vollzählig, ehe Direktor Gießens zum Pult schritt. Als er zu reden begann, wurde es still in der Aula. Selbst in der letzten Reihe, wo ich saß, war jedes seiner Worte zu verstehen. Zu sehen war er schlecht.

Den HJ-Führer aber, der uns angekündigt war, den Arndt von Stolzenberg, sah ich gut, denn er betrat die Aula durch die Hintertür und klopfte mir beim Vorbeigehen auf die Schulter. Er war weit jünger als Direktor Gießens, trug Uniform natürlich, braun mit schwarzen Schaftstiefeln und an zwei Gürtelschnallen den HJ-Dolch. Er schritt schnell aus, die zwei Begleiter an seiner Seite hatten Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Ich blickte ihnen nach, bis ich sie wie aus einem umgekehrten Fernrohr sah.

Walter Kaufmann

Walter Kaufmann, 1924 als Jizchak Salomon Schmeidler in Berlin geboren, floh 1939 nach England, lebte ab 1940 in Aus᠆tralien und kam 1956 in die DDR. Er arbeitete als Landarbeiter, Straßenfotograf und Seemann und hat das Erlebte schreibend dokumentiert. Im vergangenen Jahr veröffentlichte »nd« den ersten Teil einer Porträtreihe, in der sich Walter Kaufmann an Menschen erinnert, die seinen Weg kreuzten. Jetzt setzen wir die kleine Serie fort.

Den von Stolzenberg am Pult hörte ich deutlicher als zuvor den Direktor. »Heil Hitler!« »Heil Hitler!« schallte es zu ihm zurück. Er begann vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zu reden, vom zweiten Reich Bismarcks, und vom gegenwärtigen, dem von der Volksgemeinschaft gegründeten Dritten Reich. Dem Tausendjährigen, wie er unter großem Applaus verkündete.

Längst fühlte ich mich ausgeschlossen dort hinten in der letzten Reihe. Ich fragte mich, warum ich überhaupt hier war - dazu gehören, dabei sein wollen? Als mir jemand in die Seite stieß und »Verschwinde Itzig!« sagte, sprang ich auf und lief durch die Hintertür zum Gang hinaus. »Ein Reich für die Ewigkeit«, hörte ich den von Stolzenberg rufen. Ich lief die Steintreppe hinunter, holte meine Schultasche aus dem Klassenzimmer, nahm Mantel und Mütze vom Haken im Flur. Heilgebrüll drang von der Aula bis hinaus auf die Straße.

Am folgenden Tag erreichte meine Eltern die Mitteilung, dass mir ab sofort der Zutritt zum Gymnasium untersagt sei. Hatte man dem von Stolzenberg gemeldet, wer da unerwünscht in der letzten Reihe saß? Es sei eine Reichsverfügung, wie mein Vater es ausdrückte, und was mich gestern noch arg berührt hätte, berührte mich jetzt überhaupt nicht mehr.

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