Die letzten 75 Tage

Rüdiger Barth und Hauke Friedrichs berichten über das jähe Ende einer Demokratie - der Weimarer Republik

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 5 Min.

Für jeden, der sich mit dem 30. Januar 1933 befasst, gelten als immer wieder zu stellende Kernfragen: Wie konnte es dazu kommen und wer schaufelte der Weimarer Republik das Grab? Die Antworten sind zumeist abhängig von politischem Standpunkt und sich veränderndem Zeitenlauf.

Als 1987 die Alma mater jenensis einen Ehrendoktortitel an Wolfgang Ruge verlieh, trug der weithin bekannte DDR-Historiker sein »Nachdenken über Weimar« vor. Er weckte damals große Aufmerksamkeit mit der Frage, ob das entsetzliche Fiasko der in Revolutionszeiten 1918/19 geschaffenen Republik wirklich, wie oft behauptet, ihr wichtigstes Charakteristikum gewesen sei oder sie nicht doch besser als ihr Ruf gewesen sei. Ruge wollte in ihre Geschichte hineinhorchen, auch um Gegenwartsprobleme ergründen zu können. Dabei bezog er sich auf die seinerzeit gegebene Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Systeme und Staatenbündnisse. Im Vordergrund stand die These: Von Weimar ging kein Krieg aus. Diese Republik habe nicht allein Ausgangspunkt und Nährboden für Faschismus und Krieg geboten, sondern eher ein Riesenlaboratorium gesellschaftlichen Ringens dargestellt, demokratische und in eine andere Zukunft weisenden Potenziale enthalten.

Gilt das auch für den gegenwärtigen Blick auf die Weimarer Republik und ihr Ende? Muss sich heute nicht wieder zunehmend der Blick auf damalige Versuche ökonomischer, politischer und autoritärer Krisenbewältigung richten? Auf das folgenreiche Übermaß an Toleranz gegenüber beschämenden Erscheinungen nationalistischer und rassistischer Fremdenfeindlichkeit? Auf die Ursachen und Folgen des damals so unzulänglichen, ja geradezu förderlichen Umgangs mit den Nazis durch (un)verantwortlich handelnde Behörden und Parteien?

Wird so das von Rüdiger Barth und Hauke Friedrichs vorgelegte Buch befragt, lassen sich Antworten für die letzten 75 der rund 5200 Tage des nach Weimar benannten Staates finden - der Leser mag entscheiden, ob die zeitliche Begrenzung auch inhaltliche Schranken mit sich bringt. Der Blick in das Buch lohnt auf jeden Fall. Es ist zudem brillant geschrieben: faktenreich und kurzweilig, abwechslungsreich und unterhaltsam. Bei der Wiedergabe von Gesprächen handelnder Akteure könnte beinah der Eindruck entstehen, man sei dabei gewesen. Mitunter sind sogar Gedichte eingefügt - beeindruckend die von Mascha Kaléko.

Die Autoren ließen sich von der amerikanischen Polit-Serie »House of Cards« inspirieren. Sie lehnten sich offensichtlich auch an das Collagen-Modell an, mit dem das Buch »1913. Der Sommer des Jahrhunderts« von Florian Illies Furore machte. In einem Interview bekannten beide, sie hätten die Fakten gewissermaßen als Vorlage für ein Drehbuch genommen und ein Drama montiert, so als würde es aus sich selbst heraus erzählen.

Barth/Friedrichs gehen strikt chronologisch vor: Vom 17. November 1932 bis zum 30. Januar 1933. Sie erfassten Tag für Tag in einem Online-Archivsystem, sortierten Bruchstücke aus unterschiedlichsten Quellen. Ausgewertet wurden neben Standardwerken - die von Ruge und anderen DDR-Historikern gehören nicht dazu - Protokolle, Tagebücher, Briefe, Zeitungsartikel, behördliche Dokumente.

Tag für Tag beginnt jede Zusammenstellung mit Schlagzeilen aus einzelnen Zeitungen, dabei oft aus dem NS-Hetzblatt »Völkischer Beobachter«, aber auch dem dem Organ der KPD, der »Roten Fahne«, sowie der bürgerlichen »Vossischen Zeitung«. Brocken und Bruchstücke, Splitter und scherbengleiche Stücke reihen sich zu Bildern vom Tagesgeschehen. Oft erfährt der Leser Belangloses: Bella Fromm von der »Vossischen Zeitung« wird ein koketter Mund zugesprochen, den Kanzler Kurt von Schleicher hätten »schöne Hände« geziert, am Hals von Staatssekretär Otto Meissner sei stets der Krawattenknoten zu eng gewesen, Abraham Plotkin, ein 40-jähriger amerikanischer Gewerkschaftsfunktionär, habe nach einem Theaterbesuch auf seinem Heimweg 30 Prostituierte gezählt und sich mit kaltem Wasser waschen müssen. Aus dessen Tagebuch wird häufig zitiert, offensichtlich dient sein Verfasser als ein Alltägliches beobachtender und nachdenklich fragender »kleiner Mann« der Straße. Oft kommen auch Harry Graf Kessler und Frau Fromm zu Wort, seltener Carl von Ossietzky. Hingegen blitzt manch Wichtiges gelegentlich am Rande auf, so beispielsweise als Hindenburg am 19. November 1932 einen Brief namhafter Wirtschaftsführer erhält. Eine knappe Seite enthält Zitate aus diesem Dokument. Dazu heißt es: Hindenburg sei sehr beeindruckt. Punkt. Mehr nicht, auch später nicht.

Von den Autoren als »Tiefenbohrungen« angekündigte Teile gibt es selten. Was sie als eine zur »Untergrundtätigkeit der KPD« anpreisen, lässt sich als solche nicht erkennen. Während sie differenziert auf Streit und Tatenlosigkeit der Sozialdemokratie schauen, wird leichthin behauptet, den Kommunisten hätte einzig die SPD als Feind gegolten. Die bekannte Warnung, wer Hitler wähle, wähle den Krieg, wird mit zwei Fragen versehen: »Hellseherische Worte? Oder Hetze eines Stalinisten?« Das Programm der Nazis, den Marxismus »ausrotten«, d. h. SPD, KPD, Gewerkschaften und andere Organisationen der Arbeiterbewegung vernichten zu wollen, taucht lediglich einmal indirekt in einer Aussage von Hitlers deutschnationalem Konkurrenten Alfred Hugenberg auf.

Gut nachvollziehen kann der Leser jedoch die Hintertreppenpolitik der politischen Eliten - ein Gestrüpp aus Winkelzügen und Geheimdiplomatie. Hinter den Kulissen betriebene Intrigen und Ränkespiele, Kabalen und arglistig organisierte Gesprächsrunden - das alles charakterisiert das damalige, selbst vor einem Bündnis mit den Faschisten nicht zurückschreckende Machtstreben.

Bereits Titel und Umschlag des Buches verraten, dass bei aller Faktendichte und schillerndem Panorama kaum eine historische Analyse erfolgt. Es handelt vorwiegend von fünf Personen: Hindenburg, Schleicher, Papen, Hitler und Goebbels. Laut Werbung für das Buch waren es Strippenzieher, Glücksritter, Extremisten und Volksverführer, die einen skrupellosen Kampf um die Macht führten und über das Schicksal der Deutschen entschieden.

Nebenbei: Etwas unstimmig verwenden Barth/Friedrichs die Berufsbezeichnung Totengräber als Metapher. Mit ihr sind in der Regel Bestatter gemeint. Das Problem, warum die Weimarer Republik »starb«, so dass Hitlers Machtantritt möglich wurde, wird von ihnen jedoch nicht konkretisiert. Auf die Bestrebungen der Eliten, die Ergebnisse sowohl des Weltkrieges als auch der Novemberrevolution zu revidieren, wird nicht eingegangen, ebenso kaum auf den in dieser Hinsicht besonders folgenreichen Papen-Putsch vom 20. Juli 1932.

Rüdiger Barth/Hauke Friedrichs: Die Totengräber. Der letzte Winter der Weimarer Republik. S. Fischer, 410 S., geb., 24 €.

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