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Ästhetik einer vergangenen Maschinenwelt

Der Industriesalon Schöneweide zeigt die Ausstellung »Industrie trifft Kunst trifft Industrie«

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer noch einmal alte Glühbirnen sehen will oder Sendertechnik für Radioprogramme, die nicht über das Internet übertragen werden, der ist im Industriesalon Schöneweide richtig. Die bereits in den 1980er Jahren angelegte Sammlung des Werks für Fernsehelektronik (WF), die nach der Wende und der unmittelbar darauf folgenden Deindustrialisierung auch um Objekte aus den benachbarten Elektrobetrieben angewachsen ist, ist vor einigen Jahren in das ehemalige Transformatorenwerk gezogen. Das profiliert sich seit kurzem als Kulturstandort Reinbeckhallen. In den großen Hallen ist derzeit die vom Kreuzberger HAU eingeladene US-Choreographin Meg Stuart mit ihrem ortsspezifischen Stück »Projecting [Space[« aktiv. Das Künstlerinnennetzwerk Goldrausch zeigt gleich nebenan seine Jahresausstellung. Prominent eröffnet wurde das Areal im letzten Jahr mit einer großen Retrospektive der Fotografin Sybille Bergemann.

Doch im Industriesalon kann man erfahren, wie es bis vor drei Jahrzehnten hier noch aussah, was produziert und entwickelt wurde, welche Menschen hier lebten und arbeiteten, träumten und fluchten. In mehreren Ausstellungsräumen werden vor allem technische Geräte gezeigt, die in Schöneweide bis zum Jahr 1989 produziert wurden. Die Bandbreite reicht von kleinen Röhren und anderen Bauteilen über Haushaltselektronik bis hin zu gewaltig wirkenden Sende- und Empfangsanlagen.

Auch einzelne Arbeitsplätze sind eingerichtet, von Materialprüfern etwa oder von Punktschweißern. Viele Fotografien und Aussagen von Zeitzeugen geben Einblick in die damalige Arbeitswelt sowie das traurige Ende mit Abwicklungen, Werksschließungen und Streiks, die dieses Ende verhindern wollten.

Ein besonderes Exponat ist die in den 1950er Jahren im WF entwickelte Toccata-Orgel. Das Instrument hat das Aussehen eines Klaviers. Es enthält aber mehr als 250 Elektronenröhren und ist in der Lage, den Klang von Silbermann-Orgeln zu imitieren. Bis 1989 war das Instrument in der Komischen Oper im Einsatz. Es weist bereits auf die Beziehungen zwischen Kunst und Technologie hin.

Als eine bewusst gesetzte Erweiterung dieses Beziehungsgefüges darf man die aktuelle Ausstellung »Industrie trifft Kunst trifft Industrie« verstehen. Sie beinhaltet künstlerische Interventionen in die Dauerausstellung. Riesige Insekten, Skulpturen des Künstlers Edgar A. Eubel, erobern den Raum zwischen Schaltschränken. Die Mikrowelten-Erbauerin Doris Hansen hat inmitten von Vitrinen, die kleinste Bauelemente zeigen, eine aus Styropor gefertigte Miniatur-Weltraumkolonie aufgebaut. In ihre Installation sind Elektrobauteile aus der historischen Sammlung als architektonische Elemente integriert.

Marion Gülzow wiederum hat sich Fotomotive aus der Sammlung einem mechanischen Bearbeitungsprozess unterzogen, der zugleich an die frühe Computertechnik erinnert. Lochsequenzen sind in die Fotos gestanzt, die nun selbst wie frühe Datenträger wirken. Hält man dunkle Oberflächen hinter die Fotos, ist das auf ihnen Abgebildete wieder deutlicher zu erkennen; die Vergangenheit nimmt wieder Formen an.

Sehr eindrucksvoll ist die Installation aus zehn in Beton abgegossenen Köpfen im ersten Raum, die Robert Stieve gleich unter ein Panoramabild der einstigen Industrielandschaft an der Spree platziert hat. Das kleine Flugzeug, das in einigen Köpfen steckt, tritt in einen Dialog mit der Industriearchitektur. Die Gleichförmigkeit der Köpfe, aber auch deren Differenz in Details - sie sind Abgüsse derselben Urform, wurden danach aber einzeln bearbeitet - erinnert an die Spannung zwischen dem Verschwinden des Einzelnen im Kollektiv und dessen dennoch weiter bestehenden Individualität.

Zu empfehlen sind auch die diversen Spaziergänge und Radtouren durch die historische Industrielandschaft, die die Betreiber des Industriesalons anbieten.

»Industrie trifft Kunst trifft Industrie«, bis 2. Dezember, Industriesalon Schöneweide, Reinbeckstraße 9

Di bis So: 14 bis 18 Uhr

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