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Der Keim einer Traurigkeit

Monika Melchert weiß gut Bescheid über Anna Seghers im französischen Exil

  • Christel Berger
  • Lesedauer: 3 Min.

»Seitdem sie im Frühjahr 1933 allein die Grenze überquerten und die Kinder zunächst in Deutschland blieben, steckt in all ihren Gedanken der Keim einer Traurigkeit, die auch aus ihrer Prosa nie wieder ganz verschwinden wird.« Gemeint sind Anna Seghers und ihr Mann László Radvanyi. Die Kinder - der siebenjährige Peter (Pierre) und die fünfjährige Ruth - werden später von den Großeltern aus Mainz an die französische Grenze zwischen Kehl und Strasbourg gebracht.

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Monika Melchert: Wilde und zarte Träume. Anna Seghers. Jahre im Pariser Exil 1933–1940.
Zeichnungen von Luna Al-Mousli. Bübül Verlag, 91 S., br., 15 €.

»Wie Verrückte«, so Anna Seghers, hätten sich die Kinder in die Arme der Eltern geworfen, wo sie dann unbeweglich verharrten. Peter hatte ein »halbes Deutschland« in den Hosentaschen: »ein paar trockene Grashalme, einen Pfennig, eine Fahrkarte, einen Tannenzapfen«.

Nun galt es, in Paris Fuß zu fassen. Die Kinder mussten in die Schule, der Vater brauchte (und fand) Arbeit, Mutter »Tschibi«, wie sie in der Familie genannt wurde, schrieb und musste doch alles im Griff behalten. Das war der Unterschied zwischen ihr und den meisten ihrer männlichen Kollegen, die jedoch nicht produktiver waren.

Dazu kam die Sorge um die Sicherheit, denn die Gestapo hatte ihre Späher in Paris, auch bevor es 1940 von den Deutschen besetzt wurde. Der Alltag von Anna Seghers war gefährlich. Über deren Leben in Paris von 1933 bis 1940 hat Monika Melchert nun ein kleines Buch geschrieben: »Wilde und zarte Träume«. Sie zeigt darin, wo Seghers wohnte, wie sie lebte, was sie schrieb und wie sie sich fühlte.

Melchert weiß gut Bescheid. Sie arbeitet in der Anna-Seghers-Gedenkstätte in Berlin-Adlershof. Jetzt ist ihr ein erstaunlich schönes Buch gelungen, weil sie zu erzählen vermag und sich in die Autorin hineinversetzt, deren Trauer und Sorgen sie versteht und deren Stärke und Kraft sie bewundert. Was in Biografien aus Platzgründen oder streng wissenschaftlicher Ambition dummerweise meist unter den Tisch fällt, hier ist es sehr gut aufgehoben.

Seghers’ Flucht mit den Kindern ins unbesetzte Frankreich ist ein besonderes Kapitel gewidmet. Und wie sich die ganze Familie dann doch noch in Marseille traf und nach Mexiko entkam! Alles ist wunderbar konkret geschildert, Anekdoten und Details aus der Seghers-Literatur sind gut gebündelt.

Zwei von Seghers ungewöhnlichsten Erzählungen, »Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok« und »Sagen von Artemis«, interpretiert Monika Melchert auf originelle Weise: Fantastisches und Reales, Allgemeingültiges und Aktuelles fließen hier bei Seghers ineinander. Nichts ist eindeutig, dennoch bleibt bei allen großen Fragen die Macht der Hoffnung.

Melchert betrachtet auch die Aufsätze, Reden und Recherche-Reisen von Seghers, erwähnt ihre Freunde und Arbeitspartner. Natürlich geht es auch um »Das Siebte Kreuz« und das dramatische Schicksal des Manuskripts, das beinahe verloren gegangen wäre. Melchert diskutiert den Heimatbegriff von Seghers, der weder reaktionär noch kitschig war und im Exil eine wichtige Rolle spielte. Eine Sehnsucht, die ebenso mit Trauer wie mit Mut zum Träumen und zum Kämpfen verbunden war.

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