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Himnaera!

Die Winterspiele von Pyeongchang waren vollgestopft mit Symbolik. Erstmals könnte aus einem Olympischen Frieden nun echter Friede entstehen.

Was »Hallo« auf Koreanisch heißt, habe ich leider vergessen. Gerade einmal zehn Monate ist es her, dass ich damit mehrmals täglich Busfahrer und Verkäuferinnen in den Olympiaorten Pyeongchang und Gangneung begrüßt habe. »Bitte« und »danke« sind auch verschütt gegangen. Peinlich, sicher! Aber immerhin ist mir doch ein koreanisches Wort in Erinnerung geblieben, obwohl ich es nie selbst ausgesprochen habe: »Himnaera!« Dieser Anfeuerungsruf heißt frei übersetzt: »Auf geht’s!« Und erstmals hörte ich ihn am 10. Februar 2018 - aus den Kehlen von 230 Nordkoreanerinnen im Kwandong Hockey Centre. Besonders daran war, dass die komplett in Rot gekleideten »Cheerleaderinnen« damit nicht nur die eigenen Landsfrauen auf dem Eis anfeuerten. Nein, hier spielte eine gesamtkoreanische Olympiamannschaft. Nord und Süd gemeinsam. Zum ersten Mal.

Meine Konzentration galt nicht dem Spiel, das die Gegnerinnen aus der Schweiz übrigens 8:0 gewinnen sollten. Ich schaute auf die verschiedenen Zuschauer auf den Tribünen: Ein Block unter mir saßen Südkoreas Staatspräsident Moon Jae In und Kim Yo Jong, die Schwester von Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un. Dazwischen IOC-Präsident Thomas Bach, der die beiden irgendwie zusammengeführt hatte. Auf der Gegengeraden sah ich jene beeindruckend synchron agierende Anfeuerungstruppe aus dem Norden und im Rest des weiten Runds die gut 3000 Besucher aus dem Süden, die nach gerade einmal drei Minuten Spielzeit auch alle »Himnaera!« schrien und damit in den kommenden knapp zwei Stunden kaum mehr aufhören würden. Selbst nach dem achten Gegentreffer war die Stimmung grandios.

Einen Abend zuvor war bei der Eröffnungsfeier alles noch voller Pathos gewesen, nicht weniger historisch zwar, aber eben doch sehr zeremoniell. Bobfahrer Won Yun-jong (Süd) und Eishockeyspielerin Hwang Chung-gum (Nord) hatten zusammen die Einheitsflagge Koreas ins Stadion getragen, hinter der sich alle Sportler und Funktionäre aus beiden Staaten zum Einmarsch versammelt hatten. Park Jongah und Jong Su Hyon, die tags darauf gemeinsam gegen die Schweiz spielen sollten, liefen mit der Olympischen Fackel eine riesige Treppe hinauf. »Die koreanische Halbinsel wird ein Friedensheld werden«, hatte Präsident Moon zuvor in seiner Eröffnungsrede gesagt. »Ich hoffe, dass künftige Generationen den heutigen Tag als ›Winterolympiade des Friedens‹ in Erinnerung behalten werden.« Dafür gab es wohlwollenden Beifall.

Ehrlicher, gemeinsamer Jubel aber kam erst auf, als der Puck übers Eis flitzte. Jetzt bewegte sich etwas in den Köpfen der Menschen. Klar, war auch die nur wenige Wochen zuvor hastig zusammengeworfene Mannschaft zuallererst ein Symbol. Es hätte von den Olympiafans genauso als künstlich oder staatlich verordnet abgelehnt werden können. Doch mit Ausnahme der Schweizer Mannschaft wollte jeder in der Halle ein Tor der Koreanerinnen sehen. Am besten erzielt von der technisch starken Park Jongah, vorbereitet von der schnellen Jong Su Hyon. Die Identifizierung mit diesem gemeinsamen Team sollte im Laufe der Spiele immer weiter voranschreiten. Als Koreas Mannschaft vier Tage später in ihrem letzten Spiel gegen Japan endlich ihr erstes Tor erzielte, rief die ganze Halle »Korea, wir sind eins!« Auch diese Worte waren von den Nordkoreanerinnen angestimmt worden.

Vor meiner Abreise schrieb ich in mein letztes Tagebuch: »Eine Vereinigung zweier so unterschiedlicher Länder kann ich mir immer noch nicht vorstellen. Aber irgendwann mal den Enkeln erzählen zu können: ›Ich war dabei, als alles begann.‹ Das wäre schon was.« Ich dachte damals, nein, ich war mir sicher, dass Olympia zuvorderst eine riesige Show ist: sportlich und politisch. Südkorea wollte friedliche Spiele, Nordkorea wollte die Chance nutzen, mal positive Schlagzeilen zu schreiben. Danach wird alles wieder seinen gewohnten Gang gehen. Dass aus dem Olympischen Frieden echter Friede wird, hatte das IOC bei allem Pathos noch nie beweisen können. Zweifel waren also angebracht.

Umso bemerkenswerter ist es, dass ich zehn Monate nach jener Show optimistischer bin als damals. Der Friedensprozess ist keineswegs tot, er wurde sogar beschleunigt. Zwei Monate nach Olympia trafen sich Kim Jong Un und Moon Jae In erstmals zu direkten Gesprächen. Heute ist der ministerielle Austausch zwischen Nord und Süd fast schon regelmäßig. US-Präsident Donald Trump traf sich auch mit Kim und unterschrieb eine Absichtserklärung zur Denuklearisierung ganz Koreas. Über den Fahrplan herrscht noch Streit. In den USA zweifeln noch viele an der Redlichkeit Kims, wollen die Sanktionen nicht lockern, bis Nordkorea kernwaffenfrei ist. Dass Kim seinen großen Trumpf ohne Gegenleistung aus der Hand gibt, ist jedoch ziemlich unwahrscheinlich.

Von dieser gefühlten Pattsituation wollen sich die Koreaner aber nicht aufhalten lassen. Nationalmannschaften wurden mittlerweile auch in anderen Sportarten zusammengelegt, ein Kulturaustausch wird vorangetrieben, eine Flugverbotszone über der Grenze angestrebt, um künftig gegenseitige Provokationen zu verhindern. Anfang Dezember betraten erstmals sogar Soldaten aus Nord und Süd das Gebiet des jeweils anderen Staates und überprüften gemeinsam die vereinbarte Zerstörung von Grenzposten.

Offiziell befinden sich beide Länder noch im Krieg, wenn seit 1953 auch ein Waffenstillstand herrscht. Einen Friedensvertrag gibt es nicht, die Chance darauf war aber nie so groß wie jetzt. Die Koreaner dürften ihren Politikern zurufen: »Himnaera!«

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