Hufeisen im Kopf

»Titanic«-Chefredakteur Tim Wolff erklärt, warum »Zeit«-Chef Giovanni di Lorenzo nach dem Fall Relotius weiter machen wird wie bisher

  • Tim Wolff
  • Lesedauer: 3 Min.

»Natürlich«, schreibt der »Zeit«-Chef Giovanni di Lorenzo am 3. Januar auf der Front seines Blattes »über den Umgang der Medien mit ihren Fehlern« - und wir wissen schon nach diesem ersten Wort: Wird mit »natürlich« begonnen, dann folgt ein Zugeständnis, das nur der satzwendenden Relativierung dient. »Natürlich ist das betrügerische Machwerk des Spiegel-Reporters Claas Relotius ein schwerer Schlag« - blöderweise nicht bloß für die Konkurrenz, sondern »leider auch für einen vielerorts um seine Glaubwürdigkeit kämpfenden Journalismus«.

Leider leider will die Kundschaft nicht mehr so. Die Leserbriefschreiber von einst bewüten lieber online die unzureichende Herabwürdigung Andersartiger durch ihre einstigen »Leitmedien« und schaffen sich Alternativen zu Zeitungen für Deutschland. »Um seine Autorität kämpfend« müsste es wohl also heißen; Autorität, die nur für Glaubwürdigkeit halten kann, der nie, sagen wir: einen »Spiegel« las (z.B. 3/1979: »Kohl kaputt«).

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»Das Erschrecken, der Aufschrei sind berechtigt«, bleibt di Lorenzo noch ein grammatisch holpriges Satzanfänglein im Zugeständnismodus - und wir fragen uns vor der unausweichlichen Einschränkung: Wo gab es eigentlich dieses »Erschrecken«, außerhalb der Kaste di Lorenzos? Das »Lügenpresse«-Volk fühlte sich bestätigt, die gute »Mitte« bangte mit den Statussymbolen ihres Bildungsbürgertums, und der Rest derer, die sich überhaupt interessierten, wusste sofort: Einer wie Relotius ist Symptom, nicht Ursache.

Wie beruhigt der gute Giovanni nun die erschreckten Studienräte und PoWi-Studenten allen Alters und Geschlechts, die sein Blatt am Leben erhalten? »Das Erschrecken, der Aufschrei sind berechtigt, aber manche Tonlage ist jetzt auch selbstgerecht und, ja, verlogen.« Und da verbeugen wir uns bereits am Ende des zweiten Satzes: Wie hier eine gleichwertig falsche Gegenseite herbeiprojiziert wird, das ist gepflegte Deppendialektik des Liberalismus in Bestform.

Weil die Wahrheit immer in der Mitte liegen muss, müssen die Extreme immer gleichförmig sein - das Hufeisen im Kopf. Und wenn einer Texte selbstverliebt herbeilügt, wie Relotius es auch für die »Zeit« getan hat, dann muss die Gegenseite, bestehend aus »manchen Tonlagen«, selbstredend »auch« selbstgerecht und - da macht sich di Lorenzo mit einem kommageklammerten »ja« Mut - verlogen sein, damit der di Lorenzo und seine Abkäufer sich dazwischenkuscheln können. So stellt man »gefühlte Wahrheit« her. Und dass so einer glaubt, Tonlagen (statt etwa Behauptungen oder Beobachtungen) könnten verlogen, also auch wahr sein, das ist ja ohnehin der Kern des Pressproblems, das Relotius ausnutzte.

Der Rest überrascht noch weniger: »Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn ausgerechnet die schwere Kunst der Reportage in Verruf geriete« - obwohl sie es längst ist, oder warum diese Verteidigung? Reporter machen »Fakten erst erfahrbar«, es gibt »neben der begründeten Kritik auch militanten Neid« - ohne dass wir erfahren, bei wem, weil uns niemand diesen Fakt erfahrbar macht. Und am Ende wird uns zugerufen: »Medien legen ihre Fehler auch bloß, beheben sie, sie sind sich selbst korrigierende Systeme« - ganz sicher? Nein: »nicht immer, aber immer öfter«. Was bestenfalls ein frommer Wunsch ist, aber garantiert selbstgerecht. Zusammen: (Selbst-)Betrug.

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