»Völlig andere Migrationsgeschichten«

Petra Sitte (LINKE) und Karamba Diaby (SPD) über integrationspolitische Entwürfe in Ost und West

  • Günter Piening
  • Lesedauer: 8 Min.

Von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow ist der Satz überliefert: »Der ostdeutsche Wähler will alles, nur keine westdeutsche Großstadtpartei.« Klar ist, dass der Migrationsdiskurs sehr von den Erfahrungen der Städte Westdeutschlands dominiert wird und Berlin immer wieder im Fokus steht. Welche Folgen hat das für die Migrationsdebatte in den Flächenländern?

Petra Sitte: Man muss akzeptieren, dass die Westländer einen Erfahrungsvorsprung in der Migrationsdebatte haben. Auch die DDR hatte Einwanderung, die Diskussion lief aber unter negativem Vorzeichen: Ziel war nicht Teilhabe und Integration, sondern eher ein Sich-Absetzen und Ausgrenzung. Dieses, verbunden mit der späteren sozialen Entwicklung, belastet die Diskussion noch heute. Dazu kommt, dass Großstädte von ihrem Grundcharakter her diverser sind und mehr Raum für unterschiedliche Lebensentwürfe bieten. Metropolen haben einfach mehr Kompetenzen, diverse Bevölkerungsgruppen aufzunehmen, als ländliche Regionen.

Zu den Personen

Petra Sitte (Jahrgang 1960, links) ist Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Karamba Diaby (Jahrgang 1961) gehört der SPD-Fraktion im Bundestag an. Beide leben in Sachsen-Anhalt und haben dort ihre Wahlkreise.

Unter dem Titel »Migration und Metropolen« beschäftigt sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung seit einiger Zeit mit »Visionen, Versuchen, Schwierigkeiten und Chancen auf dem Weg in eine ›Stadt für alle‹ am Beispiel von Berlin«, wie es in der Selbstbeschreibung heißt. Kern dieses Projekts ist eine Reihe von Gesprächen, die maßgeblich von Günter Piening verantwortet werden. Piening, Jahrgang 1950, ist Soziologe und Journalist. Von 1996 bis 2003 war er Ausländerbeauftragter von Sachsen-Anhalt; danach bis 2012 Integrationsbeauftragter des Berliner Senats.

Im hier leicht gekürzt dokumentierten Interview spricht Piening mit den beiden Politikern über Integration und die Kraft der Zivilgesellschaft jenseits von Metropolen sowie über Erfahrungen aus ihrem Bundesland. nd

Karamba Diaby: Es wird in der Migrationsdebatte zu wenig wahrgenommen, dass es im Osten eine völlig andere Migrationsgeschichte gab als im Westen. Auf die anderen Herausforderungen reagierte die Bundespolitik nach der Wende mit falschen Entscheidungen. Die Gastarbeiter des Westens konnten bleiben, sie gehörten dazu. Die Vertragsarbeitnehmer im Osten bekamen kein Bleiberecht und sollten zurückkehren. Das hat eine Vorstellung von Nicht-dazu-Gehörigkeit geschaffen, die auch heute noch nachwirkt.

In Gesprächen mit meinen ehemaligen Nachbarn in Sachsen-Anhalt fiel mir immer auf, dass sie Einwanderung als etwas empfanden, was der DDR wesensfremd war und aus dem Westen über sie gekommen ist. Die Einwanderungsgeschichte der DDR ist ein weißer Fleck geblieben - im Osten wie im Westen. Wie wichtig ist Erinnerungskultur?

Diaby: Erinnerungskultur ist sehr wichtig, auch um die heutige Situation zu begreifen. Warum sie kamen und die Art und Weise, wie Teilhabe verhindert wurde, die isolierten Unterbringungen, die Bedingungen, unter denen der Aufenthalt gestaltet wurde. Das ist wichtig zu erzählen, weil es noch heute die Haltungen prägt. Gerade für die kommenden Generationen muss erzählt werden, dass es zwei Einwanderungsgeschichten gibt - eine »Ost« und eine »West«. Wenn sich die Kinder und Enkelkinder mit dieser Gesellschaft identifizieren sollen, müssen sie wissen: Wie war das denn mit meinem Opa, meiner Tante, wie war ihr Leben?

Sitte: Der weiße Fleck hat viele Schattierungen, auch das sollte sichtbar werden. Es gab auch in der DDR Konjunkturen der Einwanderung. Wenn in der Mongolei heute fast alle in höheren Funktionen deutsch sprechen, dann verweist das auf die Einwanderung aus der Mongolei in den ersten Jahren der DDR. Nach dem Putsch in Chile sind Chilenen mit einem Maximum an solidarischen Empfindungen aufgenommen worden, während sie im Westen kaum eine Chance auf Aufnahme hatten. Auch das gehört zu unserer gemeinsamen Geschichte.

Die Ablehnung von Pluralität ist ein Wesensmerkmal der Rechtspopulisten. Manchmal erscheint es so, als ob die Wertschätzung von Pluralität im Osten geringer ist als im Westen. Stimmen Sie zu und wo liegen die Ursachen?

Sitte: Die DDR hat kein plurales Gesellschaftsmodell gelebt. Sie war geprägt durch die Abschottung des Kalten Krieges, gerade in den letzten Jahren gab es starke nationalistische Einschläge - Stichwort »Sozialismus in den Farben der DDR«. Es gab eine Ausgrenzung von Leuten, die eine andere Kultur lebten. Das galt auch für die Migrationspolitik. Vietnamesen lebten genauso abgeschottet wie die Rote Armee, das waren geschlossene Gesellschaften. Sobald diese Inselgesellschaften angefangen haben, sich miteinander auszutauschen - und da beginnt ja Pluralität -, wurden die einschlägigen Organe aktiv.

Diaby: Für mich ist das eher eine Folge der fehlenden Erfahrung im Umgang mit dem Anderen. Wenn ich nie Kontakt hatte, kann ich mir nicht vorstellen, dass auch der syrische Geflüchtete einen Beitrag in dieser Gesellschaft leisten kann.

Es geht ja nicht nur um Quantität, sondern auch um die konkreten Migrationsbedingungen. Im Memorandum »Zuwanderung in die neuen Bundesländer« von 2003 heißt es zugespitzt, die ostdeutschen Länder seien keine Einwanderungsländer, sondern Zuweisungsländer. Gilt das heute noch?

Diaby: Die Zahlen sind nach wie vor gering und die Fluktuation ist hoch. Sachsen-Anhalt hat alle zehn Jahre seine gesamte migrantische Bevölkerung ausgewechselt. Aufgrund der schwierigen ökonomischen Situation, aber auch aufgrund von Erfahrungen mit rechtsextremistischer Gewalt sind die Länder nicht attraktiv für Einwanderer. Das gilt vor allem für die ländlichen Regionen. Das heißt, die Erfahrung mit Einwanderung wird stark geprägt von zugewiesenen Geflüchteten, die aber auch gehen, sobald sie freizügig sind. Sachsen-Anhalt nimmt 1,8 Prozent der bundesdeutschen Asylbewerber auf, davon verlässt ein Drittel nach kurzer Zeit das Land. Da ist es schwierig, Normalität im Umgang zu schaffen.

Wie kann die LINKE unter diesen Bedingungen der Nichtnormalität von Einwanderung die Diskussion um das Einwanderungsland offensiv führen?

Sitte: Indem wir auf einem kulturellen Wandel mit langem Atem insistieren. Es gibt ja auch im Osten, und hier vor allem in den Städten, Beispiele, wo sich etwas entwickelt - im akademischen Bereich, in bikulturellen Familien, in den zivilgesellschaftlichen Strukturen in den Kommunen. Dies muss sichtbar und gestärkt werden. Gemeinsame Initiativen sind wichtig, weil sie Brücken bauen und die Herzen öffnen. Dazu brauchen sie aber Unterstützung.

Und die materiellen Voraussetzungen für das Gelingen müssen stimmen, etwa in der Bildung, denn die Kinder sind die ersten, die in der Gesellschaft ankommen. Vor allem dürfen die Menschen, die sich engagieren, nicht so lange durch eine Bürokratiemaschine gejagt werden, bis sie die Nerven verlieren.

Diaby: Gerade für linke Politik finde ich wichtig, Haltung zu zeigen, trotz Umfragen und Wahlergebnissen. Und zu verteidigen, dass Linkssein Internationalismus heißt und Menschenrechte, das Recht eines jeden auf Teilhabe unabhängig von Kultur, Aussehen, Herkunft. Im neoliberalen Kapitalismus sind neue Unterordnungen entstanden, die jenseits des Produktionsprozesses bestehen. Für einige ist das nicht zu begreifen, weil sie nur in Klassen denken. Und noch heute gibt es viele, die diese Unterordnungen jenseits der Produktionsverhältnisse als Quatsch abtun.

Für mich ist klar: Der Kampf gegen Rassismus, Sexismus und andere Formen der Unterdrückung sind Phänomene, um die wir uns stärker kümmern müssen. Alle haben das gleiche Recht auf Schutz. Die Probleme werden nicht von den Minderheiten verursacht, sondern von denen, die ihre Privilegien behalten wollen.

Mich beeindruckt immer wieder die Ausdauer der zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Rechts, die sich gegen die schweigenden Mehrheiten stemmen und häufig als Nestbeschmutzer wahrgenommen werden. Hat die Übermächtigkeit des rechten Blocks in den ostdeutschen Ländern zu einem Zusammenrücken des anderen Blocks geführt und ist mein Eindruck richtig, dass Mitte-Links-Kooperationen weitaus beständiger sind als in den Westländern? Entsteht da aufgrund des drohenden Rechtsblocks ein linkes Lager?

Sitte: Drohender Rechtsblock? Eigentlich gibt es den schon. Bei den Protesten gegen Rechtspopulismus triffst du keinen von der CDU, de facto ist in Sachsen-Anhalt dieses Lager schon beieinander. Aber »linkes Lager« ist zu hoch gegriffen. Es ist eher ein gemeinsames Agieren auf der Ebene von humanistischen Werten, die nicht mehr abhängig gemacht werden von irgendwelchen konkreten Lebenskontexten, sondern als übergreifende Gemeinsamkeit empfunden werden im Sinne des Artikel 1 des Grundgesetzes: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

Diaby: Ein gutes Beispiel sind die Auseinandersetzungen um das »Identitäre Haus« in Halle. Bei den Protesten dagegen finden ganz unterschiedliche politische Strömungen, Berufsgruppen, Schichten, Schulabschlüsse zusammen und entwickeln die unterschiedlichsten Aktionsformen: Bürgerfeste, politische Texte, Protestdemos usw. Diese breite Vernetzung würde es nicht geben, wenn dieses rechte Symbol nicht da wäre. Menschen, die parteipolitisch nicht zu erreichen sind, engagieren sich in solchen Initiativen.

Sitte: Eine neue Kraft geht auch von der Generation aus, die 2015 aktiv geworden ist. Die bleiben nicht nur beim Thema Flucht, sondern interessieren sich für gerechte Weltwirtschaftsordnung, für ökologische Gerechtigkeit, beginnen, sich mit den Ursachen auseinanderzusetzen. Das stärkt von unten die Demokratie, da haben wir eine neue Chance, diese Gesellschaft insgesamt zu verändern.

Frau Sitte, was wäre für Sie der Kern einer linken Einwanderungspolitik?

Sitte: Was braucht eine Gesellschaft unter den Bedingungen von Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel, um sich solidarisch aufzustellen? Das ist der Kern der Debatte, in der sich auch die Flüchtlinge befinden. Jetzt sollen sie mit dem Einwanderungsgesetz in eine Nützlichkeitsdefinition hineingetrieben werden, die von einem arbeitszentrierten Grundverständnis ausgeht. Dabei diskutieren wir gerade im linken Lager einen viel weiteren Begriff von Arbeit und fragen, wie ein Sozialsystem umgebaut werden muss, wenn weniger Menschen dazu beitragen, dass diese Sicherungssysteme durch Arbeitseinkommen finanziert werden.

Deshalb ist für mich weniger die Frage »Wer kann was und darf zu uns kommen und wer nicht?«, sondern »Wie definieren wir für uns eine gemeinsame Perspektive und geben uns gegenseitig Raum?« - und zwar hier in dieser Gesellschaft und in den Ländern dort, um sich das zu erfüllen, was wir an sozialer Erwartung haben.

Weitere Gespräche der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu »Migration und Metropolen« finden Sie hier.

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