• Politik
  • EU-Austritt Großbritannien

Das Risiko eines Chaos-Brexits wächst

Britisches Unterhaus billigt Plan des konservativen Hinterbänklers Graham Brady

  • Verena Schmitt-Roschmann, Christoph Meyer und Silvia Kusidlo
  • Lesedauer: 4 Min.

London. Es war ein Kraftakt: Endlich hat eine Mehrheit im britischen Parlament Premierministerin Theresa May im Brexit-Streit den Rücken gestärkt und ein klares Mandat erteilt. Die Regierungschefin soll zurück nach Brüssel, die Europäische Union von Änderungen im Austrittsvertrag überzeugen und dann am 29. März doch noch einen geregelten EU-Austritt zuwege bekommen. Soweit die Theorie. Denn die britischen Beschlüsse haben einen entscheidenden Haken: Die EU schließt die verlangten Änderungen aus. Zwei Monate vor dem Brexit wird die Furcht vor einem chaotischen Bruch immer größer. Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Was genau hat das Unterhaus beschlossen?

Eine knappe Mehrheit von 317 zu 301 Stimmen billigte einen Antrag des einflussreichen konservativen Hinterbänklers Graham Brady. Dieser fordert, dass die von der EU verlangte Garantie für eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland aus dem Brexit-Abkommen entfernt wird. Der sogenannte Backstop sieht vor, dass ganz Großbritannien in der Zollunion mit der EU bleibt und Nordirland zudem teilweise im EU-Binnenmarkt, bis eine bessere Lösung gefunden ist. Stattdessen will Brady »alternative Regelungen« im Austrittsabkommen. Premierministerin May hatte sich hinter diesen Antrag gestellt und betont, sie wolle mit einem möglichst klaren Mandat nach Brüssel zurückkehren und das Abkommen noch einmal aufschnüren.

Was soll das bewirken?

Mit den Nachverhandlungen will May letztlich das mit der EU ausgehandelte Austrittsabkommen retten. Denn vor zwei Wochen hatte das Unterhaus den Deal krachend niedergestimmt. Nach der Abstimmung vom Dienstag hält May für erwiesen: Wenn nur der Backstop geändert würde, würde das Parlament das Brexit-Abkommen ratifizieren. Dann wäre ein geregelter Austritt gesichert, schlimme Folgen für die Wirtschaft und große Unsicherheit für die Bürger wären abgewendet und man könnte wie geplant in einer knapp zweijährigen Übergangsfrist die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien regeln.

Wird Brüssel das mitmachen?

Nein - so hatten es die 27 bleibenden Staaten schon im Dezember beschlossen und genau diese Position bekräftigten sie unmittelbar nach den Entscheidungen in London. Der Backstop könne nicht geändert werden, ließ EU-Ratspräsident Donald Tusk über einen Sprecher erklären. Denn vor allem das EU-Mitglied Irland will eine harte Grenze zum britischen Nordirland auf keinen Fall riskieren. Eine Teilung der Insel könnte neue politische Gewalt in der ehemaligen Bürgerkriegsregion heraufbeschwören - ein Bombenanschlag im nordirischen Londonderry schien zuletzt wie ein düsterer Vorbote. Grenzkontrollen und Schlagbäume widersprächen zudem dem Karfreitagsabkommen von 1998, für das Großbritannien und die EU gemeinsam eine Garantie abgegeben haben.

Beide Seiten beharren also auf unvereinbaren Positionen, und jetzt?

Das Risiko eines ungeordneten Brexits wächst weiter, denn nun sind es bis zum Austrittsdatum 29. März nur noch acht Wochen. Die stellvertretende EU-Unterhändlerin Sabine Weyand warnte schon vor der Londoner Abstimmung: »Es gibt ein sehr hohes Risiko eines (chaotischen) Bruchs, nicht nach einem bestimmten Plan, sondern aus Versehen.« Auch Brexit-Experte Fabian Zuleeg von der Brüsseler Denkfabrik European Policy Centre sagte: »Wir sind sehr nah dran, dass uns einfach die Zeit ausgeht.«

Welche Optionen bleiben denn noch?

Die EU-Seite lässt sich eine Hintertür offen: Sie will zwar das 585 Seiten starke Austrittsabkommen mit dem Backstop nicht mehr anrühren, kann sich aber Änderungen an der »Politischen Erklärung« vorstellen, die zum Vertragspaket gehört und die die künftigen Beziehungen beider Seiten skizziert. Bisher ist sie sehr vage. Würde Großbritannien aber bisherige Vorgaben fallen lassen und eine Zollunion oder sogar eine Anbindung an den EU-Binnenmarkt akzeptieren, wäre der Backstop praktisch erledigt. Man hätte eine dauerhafte Lösung für eine offene Grenze zwischen Irland und Nordirland. Allerdings lehnen das nicht nur die Brexit-Hardliner ab, auch für May kommt das nicht infrage. Für eine solche Kurskorrektur hat sie jetzt auch kein Mandat. Ein Labour-Antrag mit dem Ziel einer Zollunion fand im Unterhaus keine Mehrheit.

Spekuliert wird auch darüber, dass letztlich Irland der EU doch freie Hand lassen könnte, den Backstop aufzugeben. Denn ein Brexit ohne Vertrag könnte genau die Situation heraufbeschwören, die der Backstop verhindern soll: Grenzkontrollen an der neuen EU-Außengrenze.

War nicht die Rede von einer Verschiebung des Brexits?

Die EU hält diesen Weg ausdrücklich offen. Würde Großbritannien einen Antrag auf Verlängerung der zweijährigen Austrittsfrist nach Artikel 50 der EU-Verträge stellen, würde man dies erwägen und einstimmig entscheiden, ließ Tusk am Dienstagabend erklären. Allerdings fanden zwei Anträge mit eben diesem Ziel der Verschiebung des Austrittsdatums am Dienstag im britischen Parlament keine Mehrheit. Nicht ganz ausgeschlossen, dass sich das ändert, wenn der Tag X näher rückt. Letztlich könnte May noch bis unmittelbar vor dem Austrittsdatum den Antrag an die EU auch einseitig zurückziehen und so einem Chaos-Brexit entgehen.

Debattiert wird in London zudem der sogenannte Plan C: Großbritannien könnte vorerst weiter an die EU zahlen und sich dafür auch ohne das Austrittsabkommen eine Übergangsfrist erkaufen. Aber auch einen solchen »No-Deal-Deal« schließt Brüssel bisher aus. dpa/nd

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal