Wege durch die Zeiten

Zum Tod der Schauspielerin Ursula Karusseit

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Text, den sie zu sprechen hatte, übertrug sie aufs Schleifpapier ihrer Stimme - alle Härte wandelte sich so in etwas Samtenes; allem Sanften freilich blieb ein Kern von schöner Borstigkeit eingeschrieben. Ursula Karusseit verbandelte mit geradezu kecker Lust das Polternde mit dem Perlenden. Sie war eine bodenständig Galante, wohlgeübt in Bissigkeitskünsten.

Am Hans-Otto-Theater Potsdam spielte sie vor Jahren die Titelrolle in Molières »Der eingebildete Kranke« - jenen Hypochonder, der in hysterischer Sucht nach Leiden die ständige Nähe von Diagnosen, Medikamenten und Klistieren sucht. Karusseits Argan: fett, gedrungen, unrasiert, grauhäutig, schmuddelig, ein paar Haarsträhnen auf der Glatze; mit Augen, die zwischen Misstrauen und Giftsprüherei hin- und herrasten wie eine Rolle Stacheldraht; mit einem böse zusammengekniffenen Maul zudem, an dessen Enden schwerste Gewichte zu hängen schienen.

Der Hypochonder als Urform des Ideologen: Am leichtesten findet man in der Welt das, was doch überhaupt nicht da ist. Einmal fragt Argan, was man denn nun ernsthaft tun solle, wenn man krank sei, und sein Bruder antwortet: »Nichts.« - »Nichts?« - »Nichts.« Der Weisheit zumindest vorletzter Schluss: Die Natur der Dinge gelassen auszuhalten, ist bisweilen heilsamer, als die Welt unbedingt verändern zu wollen. Die Karusseit jedoch hatte gefaucht, gegreint, gebellt, war erstickt fast in Angst, um gleich darauf ein ruppiger Grollteufel zu werden. Was die Spielerin da offenbarte, war Verkrüppelung von Lebenskraft durch überschießende Negativ-Fantasien. Es war aber auch Anklage! Medizin als Kunst? Ein Mythos bloß.

Von Molière zum MDR: »In aller Freundschaft«. Fast auch schon ein Mythos. Redliche Seichtathletik im Weißkittelmilieu. Charlotte Gauss, gespielt von Ursula Karusseit, leitete die Caféteria in der Sachsenklinik, sie wollte alles und jeden fürsorglich unter ihre Fittiche nehmen, und zugleich trugen diese Fittiche die Rangabzeichen einer Generalin. Eine Frau, ganz Seele und Befehle.

Wie in einem Brennglas konnte man in dieser Serie sehen, was und wer das ist, die Karusseit: Zum einen die Schauspielerin, die bezwingend ihr Handwerk beherrschte - und sie beherrschte es mit einer Aura, die auch dort beeindruckte, wo der verhandelte Stoff vielleicht weit hinter den Möglichkeiten der Künstlerin zurückblieb.

Andererseits war da auch der Charakter K., der zwar nicht unterschlug, was mit den Jahren an gestalterischem Wert in dieses Schauspielerleben eingebrannt worden war, der aber frei blieb von aller Überheblichkeit (TV-Serie!) - die Karusseit war sich nie für Arbeit zu schade, der sie etwas Eigenes hinzufügen konnte. »Wie allen Menschen mit kräftigen Konturen liegt ihr Mickrigkeit fern«, schrieb Gisela Steineckert.

Für Millionen TV-Zuschauer blieb Karusseit die Gertrud Habersaat aus Helmut Sakowskis »Wege übers Land« (Regie: Martin Eckermann, 1968): diese junge Frau - eine kettensprengende Tapferseele zwischen nazistischer Finsternis und befreiendem Neubeginn Deutschlands. Die Magd und die Macht. »Ein Spektrum deutscher Erwartungs- und Katastrophengeschichte, das jedes einzelne Schicksal mit der Intensität einer griechischen Tragödie ins Bild setzt. Wer ist Opfer, wer Täter? In der Alltagsgeschichte verwirren sich eindeutige Etikettierungen.« Schrieb Gunnar Decker über die DVD-Neuauflage des Films.

»Daniel Druskat« hieß dann gleichsam die Weiterführung jener Adlershofer Erfolgsgeschichte, die das Genre Fernsehroman erneut zum Ereignis erhob. Ursula Karusseit, eben noch die einprägsame Habersaat, war auch als Darstellerin in Sakowskis Mehrteiler »Verflucht und geliebt« vorgesehen. Aber sie hatte in »Wege übers Land« mit Manfred Krug und Angelica Domröse und in »Daniel Druskat« zudem mit Hilmar Thate gespielt - die waren inzwischen im Westen, und sähe man die Schauspielerin nun in einem neuen Film, würde bei Zuschauern doch sofort die Frage nach den anderen beliebten Akteuren auftauchen. Die harsche Kausallehre der Erzieher.

Am Deutschen Theater Berlin gab sie die Elsa in Benno Bessons legendärer Inszenierung »Der Drache« von Jewgeni Schwarz, an der Volksbühne die Rote Rosa in »Moritz Tassow« von Hacks (Verbot nach zehn Aufführungen) sowie die Shen Te in Brechts »Gutem Menschen von Sezuan«. Besson, mit dem sie zeitweilig verheiratet war - er schuf an der Volksbühne ein beglückendes Kraftzentrum für Kunst, zu dem auch Fritz Marquardt, Manfred Karge und Matthias Langhoff gehörten: Theater als tolles Medium der Quälgeister, nicht des schönen, sondern des frechen Scheins. Ursula Karusseit da inmitten: eine Prägerin des sehr deutlich vernehmbaren Tons. Der wollte ankommen, dieser Ton, er brauchte ein Gegenüber, sei es im Einverständnis oder im Streit. Sinnlich, rau, kreatürlich.

Aus einem Zufallsengagement in Köln - Karusseit, mit Schweizer Pass, übernahm 1985 für eine erkrankte Kollegin eine Hauptrolle in Sternheims »Kassette« und erntete stürmischen Beifall - wurde ein glückliches Arbeitsexil am Rhein und in Frankfurt am Main. Eine Folge wachsenden Überdrusses an kulturpolitischen Querelen und eine Konsequenz aus steigender Langeweile an der Volksbühne. Die Karusseit erzählte: »Im Herbst 1987 war ›Courage‹-Premiere in Köln. Da kam der Kultur-Attaché der DDR aus Bonn, und dem habe ich gesagt, sehen Sie mal, so weit musste ich fahren, um die Courage zu spielen - konnte das nicht in Berlin stattfinden?« Nein, hatten die Brecht-Erben gesagt: die Karusseit nicht!

Nach dem Ende der DDR galt der Begriff von den Wegen übers Land kaum noch. War fortan kein Ruhmesausweis mehr mit unbefristeter Gültigkeitsdauer. So galt es, diese Wege neu in die Landschaft zu schlagen. Nordhausen, Schwerin, Bremen, Dessau, Tübingen. 1992 inszenierte Besson am Berliner Schiller-Theater »Hase Hase« von Coline Serreau. Die erzkomödiantische Karusseit als Familienoberhaupt: eine begnadete Einheit von Mütterlichkeit und schriller Blöße - eine Frau, schwer in Ordnung, und doch hatte sie etwas Schwereloses. Obwohl sie mit beiden Beinen auf harten Böden der Tatsachen lebte. Die Spielerin wie immer: Man kam bei der Karusseit oft gar nicht dazu, mit ihren Gestalten zu leiden. Weil man die ganze Zeit damit beschäftigt war, sie lächelnd zu mögen. Noch im Schmerz traten sie aufmunternd auf, schnippschnöselig oder lauthals marktfraulich.

In Zürich, in Bessons Brecht-Arbeit »Die heilige Johanna der Schlachthöfe«, spielte sie die Frau Luckerniddle: Porträt einer gebrochenen, hungrigen Proletarierin; die Karusseit als eine Offenbarung des Verbrauchten. Diese geduckte, fast ein wenig hündisch lauernde Arbeiterfrau - da hatte sich der schlackernde Mantel der Geschichte ein Opfer gesucht, und man sah ins tragisch umschattete Gesicht des Jahrhunderts.

Ursula Karusseit wusste sehr wohl um ihre Leistungen, um ihren Stand aus DDR-Zeiten. Aber sie nahm das Dasein, wie es kam, auch wenn es mal nicht mit Hauptrollen kam. Sie ging dem Dasein trotz allem - entgegen. Man sah ihr jederzeit das Wissen darum an, dass das Leben allzu gern die Leute gerbt, aber noch mehr sah man ihr an, dass das Leben klein beigeben muss, wenn es auf begeisterte Augen, einen zähen Willen, einen robusten Witz, einen glühenden Trotz und den Wagemut eines heiteren Charmes trifft. Und wenn nicht die großen Häuser, dann eben das kleinste Haus - dort aber groß wie eh und je: Sie spielte mit Leidenschaft im »Theater am Rand« in Zollbrücke, noch immer ein theatralischer Geheimtipp im Oderbruch, die Bühne von Tobias Morgenstern und Thomas Rühmann.

Die 1939 in Westpreußen Geborene war einst Sachbearbeiterin in einem Geraer Großbüro. Sie war spielend ein Würdewunder an Unsentimentalität, auch dann, wenn alles Lebenstriumphale nur auf Kredit genommen schien.

Nun ist Ursula Karusseit im Alter von 79 Jahren in Berlin gestorben.

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