Schlusslicht Deutschland

Im westeuropäischen Mindestlohn-Vergleich sieht Deutschland schlecht aus. Viele erhalten ihn nicht einmal

  • Otto König und Richard Detje
  • Lesedauer: 7 Min.

Beim Mindestlohn geht es aufwärts: zumindest europaweit. In den 22 EU-Staaten, die eine gesetzliche Lohnuntergrenze haben, sind zu Anfang dieses Jahres die Mindestlöhne im Mittel angehoben worden - nominal um 4,8 Prozent (der zweitstärkste Anstieg seit zehn Jahren) und nach Abzug der Inflation um 2,7 Prozent.

»Insgesamt ist innerhalb der EU seit einigen Jahren ein Trend zu deutlich höheren Mindestlohnsteigerungen zu beobachten, der sich auch 2019 weiter fortgesetzt hat«, stellen Thorsten Schulten und Malte Lübker im Mindestlohnbericht 2019 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts fest.

Die Autoren

Otto König ist Mitherausgeber, Richard Detje ist Redakteur der monatlich in Hamburg erscheinenden Zeitschrift »Sozialismus«. König war bis 2010 der 1. Bevollmächtigte der IG Metall-Verwaltungsstelle Gevelsberg-Hattingen und Mitglied im Vorstand der IG Metall. Detje ist Geschäftsführer des Vereins »WISSENTransfer – Wissenschaftliche Vereinigung für Kapitalismusanalyse und Gesellschaftspolitik«.

Die Zeitschrift »Sozialismus« versteht sich als Forum für die Debatte der gewerkschaftlichen und politischen Linken. Der hier dokumentierte Text erschien zuerst auf der Webseite von »Sozialismus«.

Zum Weiterlesen: www.sozialismus.de

Die höchste Dynamik hat sich in den mittel- und osteuropäischen EU-Ländern entfaltet, wo die Zuwachsraten aktuell meist zwischen sieben und zehn Prozent liegen. In den west- und südeuropäischen Mitgliedsländern reichen die Anhebungen von 1,4 Prozent in den Niederlanden bis 4,4 Prozent in Großbritannien und 11 Prozent in Griechenland. In Spanien und Litauen wurden die Lohnuntergrenzen zum 1. Januar sogar um gut 22 beziehungsweise um 38 Prozent angehoben. In Großbritannien soll die Lohnuntergrenze bis 2020 auf 60 Prozent des Medianlohns steigen. Ab diesem Niveau können Löhne als zumindest einigermaßen »existenzsichernd« bezeichnet werden, ohne auf weitere aufstockende Sozialtransfers permanent angewiesen zu sein. Die Schwelle, ab der der Niedriglohnsektor verlassen wird, liegt bei 66 Prozent.

In Westeuropa liegen die Mindestlöhne in der Regel über 9,60 Euro. In Belgien werden mindestens 9,66 Euro gezahlt, in Irland 9,80 Euro, in den Niederlanden 9,91 Euro und in Frankreich 10,03 Euro. Den mit Abstand höchsten Mindestlohn hat Luxemburg mit 11,97 Euro. Der britische Mindestlohn macht aktuell noch 8,85 Euro aus und wird ab dem 1. April auf 9,28 Euro angehoben - ohne die starke Abwertung des britischen Pfundes wäre er deutlich höher. Der deutsche Mindeststundenlohn von 9,19 Euro (9,35 Euro ab 2020) bildet damit das Schlusslicht in Westeuropa.

Die Lohnuntergrenzen in den südeuropäischen EU-Staaten gehen von 3,61 Euro in Portugal, 3,76 in Griechenland, 4,40 auf Malta bis 5,45 Euro in Spanien. Slowenien liegt mit 5,10 Euro fast gleichauf. In den meisten anderen mittel- und osteuropäischen Staaten sind die Mindestlöhne jedoch niedriger: In Polen werden 3,05, in Tschechien 3,11, in Estland 3,21 und in Litauen 3,39 Euro pro Stunde bezahlt. Unterhalb von drei Euro liegen bei den Mindestlöhnen nach wie vor die Slowakei (2,99), Kroatien (2,92), Ungarn (2,69), Rumänien (2,68) und Lettland (2,54). Bulgarien ist mit 1,72 Euro das absolute Schlusslicht im Mindestlohn-Ranking. (3)

Die jeweiligen nationalen Mindestlöhne können auf dieser Grundlage jedoch nicht hinlänglich bewertet werden. So muss die unterschiedliche Kaufkraft berücksichtigt werden, was das Ranking nicht unerheblich verändert. Der deutsche Mindestlohn steigt dabei von Platz 6 auf Platz 4 auf, während der Mindestlohn in Griechenland von Platz 12 auf Platz 20 abstürzt - gerade dort haben sich die Lohnarbeiterperspektiven massiv verschlechtert. Hinzukommen muss noch eine weitere Betrachtungsebene: nicht nur die absolute, sondern auch die relative Lohnposition.

Hier ist der Rückstand in Deutschland am deutlichsten: Trotz der letzten Erhöhung erreicht der Mindestlohn hierzulande mit 47,8 Prozent noch nicht einmal die Hälfte des Medianlohns - er liegt damit weiterhin deutlich unterhalb der Schwelle des Armutslohns (50 Prozent). In Westeuropa hebt sich Frankreich positiv ab, dessen Mindestlohn bei 61,8 Prozent des Medianlohns liegt, und in Südeuropa Portugal mit einem Wert von 60,9 Prozent in der dortigen nationalen Verteilungsrechnung. Gemessen am durchschnittlichen relativen Mindestlohnwert in der EU (2017: 50,6 Prozent), hinkt Deutschland sieben Jahre hinter der europäischen Entwicklung hinterher.

Daran anschließend kann schließlich eine Bewertung des Mindestlohns als Living Wage vorgenommen werden, der nicht nur am Kriterium der Existenzsicherung, sondern auch am sozio-ökonomischen Lebensstandard zu messen ist.

Die Realität sieht sogar noch trüber aus. Aufgrund arbeitgeberseitiger Tricksereien erhalten nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) 1,8 Millionen Beschäftigte immer noch nicht den gesetzlichen Mindestlohn. Dies liegt nicht - wie die Arbeitgeber klagen - an »zu viel Bürokratie«. Gerade bei der Aufzeichnung und Einhaltung der Arbeitszeit besteht erheblicher Handlungsdruck.

Es ist purer Hohn, wenn die Lindner-FDP fordert, die Aufzeichnungspflicht der Arbeitgeber abzuschaffen beziehungsweise die Arbeitszeit im Rahmen der Lohnbuchhaltung nur noch monatlich zu dokumentieren. Dadurch würden Manipulationen noch erheblich vereinfacht, da es den Mitarbeiter*innen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) nahezu unmöglich gemacht wird, auf den Tag genau die tatsächliche Vergütung der Beschäftigten gegenüber den Betrieben und Gerichten nachzuweisen. Deshalb ist die Aufzeichnung der Arbeitszeit die Grundlage für eine effektive Kontrolle der FKS und damit Garant, dass Beschäftigte das bekommen, was ihnen dem Gesetz nach zusteht.

Zu Erinnerung: Zwischen Befürwortern und Gegnern eines gesetzlichen Mindestlohns tobte jahrelang eine Schlacht. Neoliberale Ökonomen warnten vor horrenden Beschäftigungsverlusten. Die Gesamtmetall-Propaganda-Truppe Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft sponserte eine Simulationsstudie, die zu dem Ergebnis kam: »Zwischen 250 000 und 570 000 Arbeitsplätze werden nach neuesten Berechnungen durch den gesetzlichen Mindestlohn ab 1. Januar 2015 in Deutschland wegfallen.« Entgegen derartigen Horrormeldungen konnte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung vier Jahre später feststellen: »Durch den Mindestlohn ist es kaum zu negativen Externalitäten in Bezug auf die Beschäftigung gekommen«. Im Gegenteil: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist von 30,4 Millionen Mitte 2014 auf 32,5 Millionen im Sommer 2018 gestiegen.

Umstritten war von Anfang an die Höhe der Lohnuntergrenze - die 8,50 Euro pro Stunde, die zum Start festgelegt wurden, waren eine politische Setzung und sachlogisch nicht begründbar. Da sich die künftigen Erhöhungen gemäß dem Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns im Wesentlichen nachlaufend an der Entwicklung der Tariflöhne orientieren, sind im normalen Gang auch in den nächsten Jahren keine überproportionalen Steigerungen des Mindestlohns zu erwarten. So hat die damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) mit der Installierung der Mindestlohnkommission und deren Regelwerk einen Mechanismus für künftige Anpassungen geschaffen, der jede »politische Übergriffigkeit« im Sinne einer deutlichen Anhebung verhindert.

Das Gesetz legt fest, dass die festzusetzende Höhe »zu einem angemessenen Mindestschutz« beizutragen, »faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden« habe. Die Kommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung »gemäß der Entwicklung des Tarifindex des Statistischen Bundesamtes«. Eine Abweichung ist nur möglich, »wenn besondere, gravierende Umstände« vorliegen. Hinzu kommt, dass dann auch noch eine Zweidrittelmehrheit in der Kommission nötig ist, deren stimmberechtigte Mitglieder die Gewerkschaften und die Kapitalseite stellen. Die bestehende Regelung zur Mindestlohnanpassung erweist sich mit Blick zum Beispiel auf das Ziel von 12 Euro pro Stunde als Sackgasse. Bei einer jährlichen Steigerung um 2,5 Prozent dauert es bis zum Jahr 2030, bis diese Marke erreicht wäre.

Die Routine der Mindestlohnfestsetzung könnte durchbrochen werden. So weist Stefan Körzell, DGB-Bundesvorstand und Mitglied der Mindestlohnkommission, darauf hin, dass »die im Gesetz verankerte Evaluation des Mindestlohngesetzes im Jahr 2020« der Politik die Möglichkeit bietet, »den Mindestlohn einmalig zu erhöhen.« Die Ernsthaftigkeit der SPD wird man folglich im kommenden Jahr auf die Probe stellen können: Wird sie dann gegenüber ihrem Koalitionspartner darauf bestehen, den Mindestlohn um 2,65 Euro auf 12 Euro zu erhöhen? Dabei ist in der Bewertung zu berücksichtigen: Für eine Nettorente oberhalb des Grundsicherungsniveaus nach 45 Versicherungsjahren wäre ein Stundenlohn von 12,63 Euro erforderlich!

Auch die Gewerkschaften tun sich schwer. Für eine außerplanmäßige Mindestlohnerhöhung zeigt sich der DGB offen - unter der Bedingung, dass daraus keine dauerhafte Abkehr von der »Tariflohnorientierung« des Mindestlohns wird. Damit verteidigen die Gewerkschaften im Kern die Arbeitsweise der bestehenden Mindestlohnkommission. Für den ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske wird ein zu stark steigender Mindestlohn nämlich dann zu einem Problem, wenn er in Branchen mit einem unterdurchschnittlichen Lohnniveau immer mehr tarifvertraglich geregelte Löhne »überholt«.

Doch das eigentliche Problem ist nicht ein zu stark steigender Mindestlohn, sondern die schwindende Tarifbindung durch Tarifflucht der Arbeitgeber und der schwache gewerkschaftliche Organisationsgrad in Branchen und Betrieben. Deshalb ist beides erforderlich: Eine kräftige Anhebung des Mindestlohns und gewerkschaftliche Aktionen, um den Sumpf in der tariflosen Landschaft trocken zu legen, die weißen Flecken auf der Tariflandkarte zu beseitigen und Tarifverträge durchzusetzen, die ein existenzsicherndes Entgelt gewährleisten.

»Die in jüngster Zeit zu beobachtende dynamische Entwicklung der Mindestlöhne macht insgesamt deutlich, dass in vielen europäischen Ländern eine strukturelle Lohnerhöhung angestrebt wird, um den Mindestlohn auf ein angemessenes, existenzsicherndes Niveau anzuheben«, betonen Schulten/Lübker vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut. »Ein solcher Ansatz könnte durch eine europäische Mindestlohnpolitik zusätzlich unterstützt und befördert werden und zugleich der Idee eines sozialeren Europas praktische Gestalt verleihen.«

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