Nach dem Wahlkampf ...

... folgt der Kampf um die Ergebnisse der türkischen Kommunalwahlen

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach einem Wahlkampf, der in Sachen Diffamierung der Opposition alle vorangegangenen in den Schatten gestellt hatte, feierte das Regierungslager am Montag einerseits seinen Sieg und beklagte gleichzeitig »falsche« Wahlergebnisse. Denn alle vorläufigen Ergebnisse in Ankara sprachen für einen Sieg des Kandidaten der oppositionellen CHP, Mansur Yavaş, in der Hauptstadt. Der Kandidat des Regierungslagers Mehmet Özhaseki erschien auch nicht mit Recep Tayyip Erdoğan zur üblichen Balkonansprache nach der Wahl. Ein deutliches Zeichen dafür, dass es in Ankara nichts zu feiern gab für die AKP. Nichtsdestotrotz twitterte der Generalsekretär der AKP, Fatih Şahin noch in der Nacht, dass die Ergebnisse von Ankara in der Öffentlichkeit falsch dargestellt würden und kündigte Beschwerde an.

Was İstanbul betrifft, so räumte Erdoğan eine mögliche Niederlage ein. Und dies zu einem Zeitpunkt, da sich sein Kandidat Binali Yıldırım in der Millionenmetropole bereits voreilig zum Sieger erklärt hatte. In der Nacht von Sonntag auf Montag wurden von städtischen Arbeitern an Straßenbrücken und Gebäuden große Banner aufgehängt, auf denen die AKP ihren erneuten Sieg in İstanbul feierte. Dieser zerrann aber mit der Auszählung der Stimmen mehr und mehr. Doch als der Vorsprung Yıldırım auf etwa 3500 Stimmen geschrumpft war, gab es plötzlich keine neuen Ergebnisse mehr. In allen großen Medien blieben die Ergebnisse für die AKP und die mit ihr verbündete MHP von nun an unverändert. Auf der Wahlkarte blieb bei İstanbul das Braun der Regierung. Überall war weiter das Bild von Binali Yıldırım als Sieger zu sehen.

Die Sache klärte sich nur zum Teil auf. Die großen Medien übernahmen ihre Zahlen ausschließlich von der offiziellen Nachrichtenagentur Anadolu, obwohl es frische Zahlen bei der Wahlkommission gab. Anadolu hatte irgendein nicht näher geklärtes »technisches Problem« just in dem Moment, als die AKP dabei war, İstanbul zu verlieren. Am Morgen schimpfte der Leiter der Hohen Wahlkommission, Sadi Güven, auf Anadolu. Er wisse nicht, woher Anadolu die Zahlen hätte, von ihm jedenfalls nicht.

Nach den Zahlen der Wahlkommission lag der Oppositionskandidat Ekrem İmamoğlu in İstanbul am Morgen dann jedenfalls um 27 000 Stimmen vor Erdoğans Kandidaten Yıldırım. Ein sehr kleiner Vorsprung in dieser Riesenstadt, aber ein Vorsprung. Mit zwölf Stunden Verspätung änderte sich schließlich auch die Wahlkarte des staatlichen Fernsehens und von CNN Türk. İstanbul war plötzlich rot, die Farbe der CHP. Die Berichte drehten sich nicht mehr um den angeblichen Wahlsieg Yıldırıms, sondern um Funktionäre der AKP, die die Wahlergebnisse anzweifeln.

Mit einem Schlag hat Erdoğan offenbar die beiden größten Städte des Landes verloren. Beide waren für 25 Jahre in der Hand seiner AKP, beziehungsweise ihrer Vorgänger gewesen. »Wenn wir İstanbul verlieren, verlieren wird die Türkei« hatte Erdoğan bei der letzten Wahl gesagt. Nun ist ersteres eingetreten. Das ist ein psychologischer Schlag für das Regierungslager und ein lange nicht gesehener Hoffnungsschimmer für die Opposition. Mehr aber auch nicht. Insgesamt hat seine AKP zusammen mit der ultranationalistischen MHP noch immer eine Mehrheit in der Türkei. In einigen kurdischen Landesteilen konnte die AKP sogar Stimmengewinne verbuchen. Allerdings nicht in Städten wie Diyarbakır oder Cizre, in denen die regierenden Co-Bürgermeister und Bürgermeisterinnen der Linkspartei HDP im Laufe der vergangenen zwei Jahre abgesetzt und durch staatliche »Treuhänder« ersetzt worden waren.

Man kann das Wahlergebnis aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten: Erdoğan hat trotz der schlechten Wirtschaftslage insgesamt nur moderate Einbußen hinnehmen müssen. Ankara hatte er schon bei der letzten Wahl nur sehr knapp behaupten können. Die Opposition kann sich hingegen zugute halten, dass sie trotz gewaltiger Medienübermacht Erdoğans dazugewonnen hat. Die von den Medien bereitwillig mitgetragene Diffamierungskampagne gegen die Opposition kannte kaum Grenzen. Beispielsweise behauptete der Innenminister Süleyman Soylu nur sechs Tage vor der Wahl einfach, dass gegen die Kandidaten der Opposition 213 Verfahren wegen Terrorismus am Laufen seien. Wenn sie gewählt würden, dann würden sie ja doch abgesetzt, war seine Botschaft. Die pauschale Kriminalisierung der Opposition hat ihre Wähler jedoch nicht abgeschreckt.

Das Ergebnis ist allerdings noch keineswegs in trockenen Tüchern. In İstanbul, Ankara und weiteren Städten wird die AKP die Ergebnisse anfechten. Die Opposition wittert mögliche Manipulationen. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu hat seine Parteimitglieder dazu aufgerufen, 48 Stunden nicht zu schlafen. Denn nach dem Wahlkampf kommt der Kampf um die Ergebnisse. Und selbst wenn die Ergebnisse zu Gunsten der Opposition durchgehen, ist abzuwarten, ob Erdoğan gewählte Oppositionspolitiker nicht einfach mit dem Hinweis, sie seien Terroristen oder Kriminelle wieder absetzt. Angekündigt hatte er das seit dem letzten Sommer mehr als einmal.

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