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- Ökonomie
War die DDR-Wirtschaft marode?
Mit dem Pauschalurteil Misswirtschaft wird man der DDR-Ökonomie nicht gerecht
Das Urteil über die Wirtschaft der DDR scheint festgeschrieben: Misswirtschaft, Schlamperei, marode. Und ist es nicht wahr, dass die DDR-Bürger auf ein neues Auto zehn Jahre warten mussten, der Kauf von Winterschuhen zur Odyssee werden konnte? Dass viele Stadtzentren ein trauriges Bild boten und in Betrieben oft Material fehlte?
Ja, das ist wahr. Aber rechtfertigt das dieses vernichtende Gesamturteil über die Wirtschaft der DDR? Maßstab für die Bewertung der DDR-Wirtschaft war immer und vor allem die bundesdeutsche Wirtschaft. Deutschland war bis Ende des Zweiten Weltkrieges ein einheitlicher Wirtschaftsraum, also geht man wie selbstverständlich von gleichen Voraussetzungen der DDR und der Bundesrepublik aus.
Diese Annahme ist falsch, weil sowohl die Startbedingungen 1949 als auch der Entwicklungsrahmen der nachfolgenden 40 Jahre völlig unterschiedlich waren. Die Arbeitsproduktivität betrug 1950 in der DDR nur 36 Prozent der Produktivität der Bundesrepublik. Während im Westen die Bürger pro Kopf Waren und Dienstleistungen im Wert von umgerechnet 5.300 Euro im Jahr konsumieren konnten, waren es im Osten nur 2.000 Euro. Aufgrund des höheren Produktivitätsniveaus konnte die Bundesrepublik schon in den Nachkriegsjahren fast das Dreifache im Vergleich zur DDR für den Aufbau von Wirtschaft und Infrastruktur einsetzen.
Woher kommt dieser Unterschied? Von den Reparationsleistungen in Folge des Zweiten Weltkrieges trug die Sowjetische Besatzungszone 97 bis 98 Prozent. Die Pro-Kopf-Last (zu Preisen von 1953) betrug über 6.700 D-Mark im Osten und bescheidene 35 DM im Westen. Zur gleichen Zeit flossen in den Westen Milliarden aus der Marshallplan-Hilfe. Im Osten wurden 30 Prozent der Industriekapazität demontiert, im Westen nur 5 Prozent. Ostdeutschland verlor 12.000 Kilometer Eisenbahnschienen – fast das gesamte zweite Gleis.
Wichtiger noch: Die Folgen der Teilung des einheitlichen deutschen Wirtschaftsraumes und der separaten Währungsreform der Bundesrepublik 1948 brachten die ostdeutsche Wirtschaft in eine existenzielle Notlage. Der im Osten starke Werkzeugmaschinen- und Fahrzeugbau, die feinmechanisch-optischen und chemischen Betriebe in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wurden durch die Währungsreform von ihren Rohstoffquellen an Rhein und Ruhr abgeschnitten. Steinkohle musste durch energiearme und abraumintensive Braunkohle ersetzt, der Erzbergbau unter ungünstigsten Bedingungen ausgebaut, eine eigene Schwerindustrie und energetische Basis geschaffen werden.
Eine zusätzliche wirtschaftliche Belastung der sowjetischen Besatzungszone war die überdimensionale Aufnahme von Flüchtlingen aus Ost- und Südeuropa. In Ostdeutschland mussten je 100 Einwohner doppelt so viele Flüchtlinge mit Wohnung, Kleidung, Nahrung versorgt werden wie in den Westzonen.
Wer die Ergebnisse der DDR-Wirtschaft beurteilen will, darf diese wesentlich schlechteren Startbedingungen gegenüber der »reichen Schwester« Bundesrepublik nicht ignorieren. Aber auch in dem folgenden 40-jährigen Wettbewerb zwischen Ost und West hatte die DDR die eindeutig schlechteren Karten.
Die Bundesrepublik konnte mit den gleichen Strukturen und dem gleichen Personal nahtlos an die Vergangenheit anknüpfen. Die DDR musste nicht nur neue Zulieferer und Abnehmer finden, sondern ein völlig neues Wirtschaftssystem schaffen. Eine eigene Elite musste ausgebildet werden – vorwiegend aus der weniger gebildeten Arbeiterklasse. Mindestens für die ersten zehn Jahre bestand dadurch ein beträchtliches Defizit an Kenntnissen und Erfahrung.
Mit 17 Millionen Einwohnern war die DDR ein kleines Land, das nur durch internationale Arbeitsteilung in Wissenschaft und Technik Schritt halten konnte. Der weitaus größeren Bundesrepublik standen alle Türen offen – ihre Partner waren die USA, Frankreich, Großbritannien, Japan. Für die DDR blieben diese Türen verschlossen. Kalter Krieg und Embargopolitik der USA verhinderten ihre gleichberechtigte Teilnahme an der weltweiten internationalen Spezialisierung und Kooperation.
Wirtschaftspartner der DDR waren vor allem die Sowjetunion und die noch ärmeren Schwestern und Brüder im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe RGW – Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Polen, die CSSR, die Mongolei. Die Lieferungen an die Sowjetunion sicherten der DDR-Industrie zwar große Stückzahlen, zum Beispiel bei Reisezugwagen oder im Schiffbau.
Aber bei der Entwicklung und Anwendung neuer Technologien wie der Mikroelektronik fehlten Partner. Unvorstellbare 50 Milliarden Mark hat die DDR für die Mikroelektronik aufgewendet. Dadurch kostete die Herstellung eines 256-KB-Speicherchips 534 Mark. Der Weltmarktpreis lag zwischen 4 und 5 DM.
Im Laufe der 40 Jahre verließen über fünf Millionen überwiegend gut ausgebildete Bürger aus politischen, vor allem aber aus wirtschaftlichen Gründen die DDR in Richtung Bundesrepublik. Für die DDR-Wirtschaft war das ein Aderlass – für die Bundesrepublik ein Bluttransfer.
Antikommunismus und Kalter Krieg waren und blieben ständige Begleiter der DDR.
Trotz des Starts mit nur etwa einem Drittel der Arbeitsproduktivität und den um vieles schlechteren Entwicklungsbedingungen im Vergleich zur Bundesrepublik fällt die Bilanz von 40 Jahren DDR-Wirtschaft in Zahlen überraschend positiv aus.
Die durchschnittliche Wachstumsrate der Wirtschaft der DDR betrug von 1950 bis 1989 jährlich beachtliche 4,5 Prozent. Damit nahm die DDR einen der Spitzenplätze in Europa ein und übertraf sogar das Wirtschaftswunderland der westlichen Welt, die Bundesrepublik, deren durchschnittliches Wachstum 4,3 Prozent betrug.
Das Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik erhöhte sich von 36 Prozent im Jahre 1950 auf 45 Prozent im Jahr 1989 – je Einwohner von 39 Prozent auf 56 Prozent. Unter Beachtung der konkreten Bedingungen der DDR und der Dynamik der Bundesrepublik kein schlechtes Ergebnis. Zum Vergleich: Griechenland hat heute 32 Prozent, Italien 61 Prozent der deutschen Produktivität erreicht.
30 Jahre sind seit 1989 vergangen, die Planwirtschaft ist durch die Marktwirtschaft abgelöst und der Osten in die westliche Welt integriert. Das Produktivitätsgefälle ist geblieben. Sachsen, das leistungsstärkste ostdeutsche Bundesland, erreichte 2017 nur 75 Prozent des durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukts pro Einwohner der alten und neuen Bundesländer zusammen. Alle anderen neuen Bundesländer liegen hinter Sachsen.
Die DDR-Wirtschaft hatte gravierende Mängel, die das Wirtschaftswachstum und so auch das Lebensniveau der Menschen negativ beeinflussten. Wie alle osteuropäischen Länder hatte die DDR weitgehend das sowjetische Wirtschaftssystem übernommen, das vorrangig auf Mengenproduktion und weniger auf Qualität und Effektivität ausgerichtet war. Klar ist, ohne die Sowjetunion hätte die DDR keine zehn Jahre überlebt. Von dort kamen Erdöl, Erdgas, Rohstoffe – über Jahre zu moderaten Preisen. Sie war Schutzmacht und wichtigster Wirtschaftspartner. Als Schutzmacht aber besaß sie zwangsläufig auch Hausmacht.
In den 1960er Jahren hatte die DDR begonnen, die Wirtschaft zu modernisieren und ein neues ökonomisches System, das NÖS, zu gestalten. Ziel war, über Gewinn und Prämie die Betriebe leistungsorientierter und zugleich selbstständiger zu machen. Das NÖS scheiterte zu Beginn der 1970er Jahre nicht nur am Widerstand konservativer Politiker in der DDR, sondern letztlich am Einspruch der Sowjetunion, die zu dieser Zeit die Aufgabe formuliert hatte, den Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus zu forcieren.
Aber auch später ist es der DDR nie gelungen, das dirigistische Wirtschaftssystem zu überwinden. Die Bevölkerung, Eigentümerin der Betriebe, war nicht, zumindest nicht ausreichend, an Entscheidungen beteiligt. Partei und Parteiapparat entschieden, ihr Meinungsmonopol lähmte zunehmend die Gesellschaft. Diskussionen zu Grundsatzfragen wurden nicht zugelassen – auch nicht innerhalb der Partei.
Ein Dilemma der DDR-Wirtschaft war, dass Plan und Bilanzen immer angespannt, oft weit überzogen waren und dadurch enge Grenzen für unvorhergesehene Entscheidungen bestanden. Der Wettbewerb mit dem westlichen Nachbarn veranlasste die DDR wiederholt zu sozialen Maßnahmen, für die die materiellen Voraussetzungen nicht ausreichten.
Folge waren sichtbare Defizite an Waren und Leistungen – sowohl in der Wirtschaft als auch in der Versorgung der Bevölkerung. Diese selbstverursachte »Mangelwirtschaft« führte dazu, dass Bettwäsche für die halbwüchsigen Kinder oder Ersatzteile für den Trabant auf Vorrat gekauft wurden, weil man nicht sicher sein konnte, dass dann, wenn das Kind heiratet oder der Vorschalldämpfer kaputt geht, das Nötige erhältlich ist.
Viele Stadtzentren in Ostdeutschland boten Ende der 1980er Jahre ein trauriges Bild. Chemiebetriebe verpesteten die Luft. 21 Prozent der Industrieausrüstungen waren älter als 20 Jahre – in der Bundesrepublik nur 5 Prozent.
Eine Ursache lag in der hohen Belastung der Volkswirtschaft durch die gestiegenen Energiekosten. Der Erdölpreis war seit Anfang der 1970er Jahre auf das 13-Fache gestiegen, die Kosten für den Abbau der Braunkohle hatten sich verdoppelt. Im Interesse des sozialen Friedens wurden Sozialleistungen, vor allem die außerordentlich hohen Subventionen für Preise und Mieten, nicht infrage gestellt. Die Folge: Dringend notwendige Modernisierungen vor allem der Grundstoff- und Chemieindustrie fanden nicht statt.
Zur gleichen Zeit aber waren stattliche 49 Prozent, also die Hälfte der Ausrüstungen, jünger als zehn Jahre, 27 Prozent sogar jünger als fünf Jahre – ein im internationalen Vergleich sehr gutes Ergebnis. Es gab eine große Zahl hochmoderner Betriebe mit einem Maschinenpark, der teils aus dem Westen importiert, teils vom DDR-Maschinenbau oder Spezialbetrieben der Kombinate produziert worden war. Das Nähmaschinenwerk Veritas in Wittenberge, das Kombinat Zeitzer Kinderwagen, Betriebe des Werkzeugmaschinenbaus, der Feinmechanik-Optik –sie hätten alle in der Marktwirtschaft gut überleben können, wenn nicht die Treuhandanstalt den politischen Auftrag zur schnellen Privatisierung und Ausschaltung der ostdeutschen Konkurrenten gehabt hätte.
Zur Bewertung der Leistungen der DDR-Wirtschaft gehört, dass sie den DDR-Bürgern eine hohe soziale Sicherheit gab. Niemand hat in dem Land DDR gehungert, es gab keine Tafeln, keine Obdachlosen. Alle hatten Arbeit und Wohnung, zunehmend auch einen bescheidenen Wohlstand. Niedrige Mieten und stabile Preise für Brot, Strom, Wasser, Verkehrstarife sicherten den Alltag. In den letzten 20 Jahren der DDR bezog jeder zweite DDR-Bürger eine neue Wohnung.
Das heutige Thema Nummer eins – Stress, Arbeitsdruck, Konkurrenz im Arbeitsleben – war vom Grundsatz her beseitigt. Die Spaltung der Gesellschaft nach Besitz wurde überwunden, der Widerspruch zwischen Arm und Reich gelöst. Die Einkommensspreizung war gering – zu gering.
Bildung und Gesundheitswesen waren kostenlos, die Bildungs-, Kultur- und Freizeitangebote vielfältig. In der DDR gab es 70 Bühnen mit annähernd 200 Spielstätten, pro Kopf mehr als in jedem anderen Land. Die DDR war ein kinderfreundlicher Staat. Kindergarten, Hortbetreuung, Schulspeisung, Ferienlager, Sportangebote (meist kostenlos oder für ein geringes symbolisches Entgelt) wie auch Haushaltstag und verkürzte Arbeitszeit für Frauen mit Kindern ermöglichten, Beruf und Familie zu vereinbaren.
All das kostete einen großen Teil der Wirtschaftskraft des Landes, band Arbeitskräfte, Investitionen und Energie. Insgesamt eine große soziale Leistung, an die die Bundesrepublik trotz weitaus höherer Produktivität vor allem bei der Kinderbetreuung, im öffentlichen Wohnungsbau, in Bildung und Kultur bis heute nicht heranreicht.
Niemand wird die DDR-Wirtschaft von ihren Fehlern freisprechen und die Mängel in der Versorgung der Bevölkerung, bei der Modernisierung von Ausrüstungen, der Erhaltung der Stadtzentren kleinreden.
Wahr ist aber auch, dass trotz denkbar schlechter Ausgangs- und Entwicklungsbedingungen Erstaunliches geleistet wurde. Auf der Grundlage von Volkseigentum, Planwirtschaft und dem Engagement vieler Menschen erzielte die DDR über 40 Jahre ein international überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum, reduzierte den Produktivitätsrückstand gegenüber der leistungsstarken Bundesrepublik und garantierte den DDR-Bürgern einen hohen Grad sozialer Sicherheit. Eine marode Wirtschaft hätte das nicht leisten können – das Pauschalurteil Misswirtschaft ist falsch.
Erika Maier wurde 1936 in Dresden geboren. Nach einer Banklehre studierte sie Ökonomie und wurde 1968 als jüngste Professorin der DDR berufen. Bis 1990 leitete Erika Maier den Bereich Politische Ökonomie des Sozialismus an der Hochschule für Ökonomie in Berlin und hatte dort den Lehrstuhl für Weltwirtschaft inne.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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