Vergessen in der Fabrik

Man kann sich in der Arbeiterklasse verlieren wie in einem Ozean, meint Christof Meueler

Fabriken sollten eine Festung sein. So hat man das früher gesehen, in den linken Gruppen der 70er Jahre-BRD. Ihre Mitglieder gingen in die Betriebe, um solche Festungen zu errichten. Das war eine mühselige Sache. »Die Massen aber sind es, die den Weltverbesserer so oft enttäuschen«, bilanzierte Matthias Beltz 1984 in der Zeitschrift »Freibeuter« den Versuch, »dem Proletariat Sinn zu stiften in kampfarmer Zeit«.

Der spätere Kabarettist arbeitete mit den Spontilinken vom »Revolutionären Kampf« über mehrere Jahre in der Rüsselsheimer Opel-Fabrik, »der ganze Wirbel jedoch hat zu keinen Errungenschaften geführt«, wie er resümierte.

Viele der linken Studenten, die in den 70er Jahren in die Betriebe gingen, um das Proletariat zu revolutionieren, wunderten sich, dass vor allem die jungen Arbeiter*innen aus den Fabriken rauswollten. Das war unerwarteter Gegenverkehr. »An den verdinglichten Menschen hat Verdinglichung ihre Grenze«, hatte schon Theodor W. Adorno in seinen »Reflexionen zur Klassentheorie« 1942 geschrieben.

Besonders in der sogenannten Kulturarbeit der Linken kam es zu Missverständnissen, an die Beltz erinnert: »Lockt der Kulturschaffende Proletarier in sein Theater oder baut er sein Theater in einer Fabrikhalle auf, sind die Zuschauer schon längst keine Proletarier mehr, weil sie sich im Waschraum zum Bürger verkleidet haben, während sich die Schauspieler mühselig zum Proletarier herunterschminken.«

Auch meine ersten Begegnungen mit der Kultur des kämpfenden Proletariats waren ernüchternd. Mitte der 80er Jahre bestand das »Kulturprogramm« bei der 1.Mai-Feier der MLPD im Hinterzimmer einer Darmstädter Kneipe darin, dass einer aufstand und »Kollege Karl« vorlas. Das waren Comicstrips, die Erich Rauschenbach in der Zeitung der IG Metall veröffentlichte. Sie wurden hier ohne Bilder, als reiner Text vorgetragen.

Bei Beltz geht proletarischer Humor so: »Das Leben ist so eine Sache. Sagt Hans. Morgens freust du dich auf die Mittagspause. Wenn die vorbei ist, freust du dich auf den Feierabend. Am Feierabend freust du dich auf den Jahresurlaub. Und im Jahresurlaub freust du dich auf die Rente. Und wenn du in Rente bist, weißt du, es hat sich alles nicht gelohnt. Aber du hast dich oft gefreut.«

Als Kleinbürger durfte ich der MLPD nicht beitreten. Sie sei echten, werktätigen Arbeiter*innen vorbehalten, wurde mir mitgeteilt. Arbeiter war ich nur in den Schulferien. Bei der ersten Nachtschicht meines Lebens, die ich, endlich 18 geworden, bei der Darmstädter Firma Röhm antrat, sah ich gleich am Anfang beim Verlassen der Umkleideräume, wie zwei Arbeiter einen vollen Bierkasten hinter einer Falltür verschwinden ließen. Ein Bier wurde mir nicht angeboten – es hätte mich schon gefreut, zur Begrüßung in der Arbeiterklasse.

Ich stand dann mit einem alten Arbeiter an einer Maschine, aus der alle fünf Minuten lange Plexiglasplatten herauskamen, die wir auf einen Stapel heben mussten. Beim Warten auf diese Platten las ich die »Titanic«: Jeden einzelnen Scherz fand ich superlustig. Das ist mir danach nie wieder passiert. Mein Kollege vertiefte sich in Baupläne für ein Radio. Sein Hobby sei das Hören von Kurzwellen, meinte er. Er kam aus Spanien, aber war schon ewig bei Röhm. Zwischendurch habe er in Barcelona gelebt, bis er dort mit einem Restaurant pleitegegangen sei. Danach musste er zurück zum Plexiglas.

Das Industrieproletariat macht immer weiter. Man soll es nicht vergessen. Darauf wird von marxistischer Seite konstant hingewiesen. Nicht nur das Proletariat ist in linken Diskussionen oft vergessen (weil es als langweiliges Thema gilt).

Man kann auch selbstvergessen in der Fabrik sein. Und sich in der Werkhalle verlieren wie in einem Ozean. Meine erste Schicht als Leiharbeiter bei der Firma Rubbermaid in Dreieich (Rhein-Main-Gebiet) kam mir vor wie eine nicht enden wollende Zerdehnung von Zeit. Ich musste Plastikhenkel in kleine Plastikboxen einsetzen. Jeder Blick auf die große Uhr in der Halle war wie ein Schlag auf den Kopf. Als würde man Langeweile noch langsamer machen.
Später stand ich nachts bei Rubbermaid am Band und packte Mülleimer, Kisten oder Schüsseln in Kartons. Der Arbeiter, der sie abholte, hatte früher eine Pizzaria gehabt, erzählte er. Das war lange her. Seitdem arbeitete er Nachtschicht, weil man so am meisten Geld verdient. Vielleicht sogar sechs Tage die Woche, wenn das erlaubt war – wie für mich als Studenten.

Am Band durfte ich Musik vom Walkman hören, was ich nett fand von der Fabrik. Der Typ von der Spätschicht, den ich an der Maschine ablöste, machte stets den selben Witz: »Lass die Maschine heil, sonst melde ich es dem Obersten Sowjet!« War das proletarisches Bewusstsein? Mein eigenes verabschiedete sich in Richtung Trance. Nacht für Nacht Plastik vom Band runterheben und einpacken. Es dauerte eine Stunde, bis das Band leergeräumt war. Dann spurtete ich quer durch die Halle ins Freie, um für fünf Minuten eine Zigarette zu rauchen. Wenn ich zurückkam, war das Band wieder voll, und ich räumte es eine Stunde lang leer, bis zur nächsten Zigarette. Es waren die besten Zigaretten meines Lebens.
Das ging über Wochen. Zu Hause konnte ich ausschlafen. Das war gut. Bücher konnte ich nicht mehr lesen. Das war nicht schlimm. Es gab ja Fernsehen. Die Samstagabendshows kamen mir nun viel besser vor. Leben und Arbeit waren eben nicht getrennt, sondern verwischten. Es hätte ewig so weitergehen können, in einer beschäftigten Dauerschläfrigkeit ohne richtige Erholung.

In einem früheren Text, 1977 in der Zeitschrift »Autonomie«, hatte Matthias Beltz geschrieben, dass den Linken in der Fabrik nur taktische, keine strategischen Siege gelingen könnten: »Das Kriegsbewusstsein in der Fabrik ist ein Rückzugsbewusstsein. Da kommt es vorrangig aufs Überleben an. Denn die Arbeit ist der Rückzug aus dem Leben.« Die Fabrik war also doch eine Festung, eine, aus der man nicht mehr rauskam. Eine Nachtschicht, die niemals endet, es sei denn, man muss zurück zur Universität.

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