Mehr Grundgesetz wagen!

Rechtlich gibt es bereits gute Grundlagen für eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft

  • Halina Wawzyniak
  • Lesedauer: 4 Min.

Für die Linke war und ist das Grundgesetz (GG) ein oft nicht besonders geliebter Schatz. Zu Unrecht. Denn das GG bietet eine gute Grundlage für eine demokratisch-sozialistische, eine nicht von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen geprägten Gesellschaft.

Der zentrale Ausgangspunkt des GG ist der Artikel 1 Absatz 1. Aus diesem leitet sich alles ab und er unterliegt der sogenannten Ewigkeitsgarantie: Selbst eine verfassungsändernde Mehrheit darf ihn nicht abschaffen. »Die Würde des Menschen ist unantastbar« stellt angesichts der Tatsache, dass dieser Satz noch vier Jahre vor Inkrafttreten des Grundgesetzes unter großem Einverständnis der Bevölkerung nichts wert war, quasi eine Revolution dar. Die konkrete Auslegung, was aus der Achtung der Menschenwürde folgt, war und ist umstritten. Erst eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 legte fest, dass Artikel 1 ein subjektives Grundrecht ist, also ein Grundrecht, auf das sich jede*r berufen und es einklagen kann. 1983 wurde (auch) aus der Menschenwürde das Grundrecht, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen, hergeleitet.

In einem engen Zusammenhang mit Artikel 1 steht der soziale Bundesstaat in Artikel 20 Absatz 1 GG. Er unterliegt ebenfalls der Ewigkeitsgarantie. Im Jahr 1951 lehnte das Bundesverfassungsgericht noch ein »Grundrecht des Einzelnen auf gesetzliche Regelung von Ansprüchen auf angemessene Versorgung durch den Staat« ab. 2010 hat das Bundesverfassungsgericht dann aber ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums anerkannt: »Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (…) sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.« Damit enthält das Grundgesetz also die einer Ewigkeitsgarantie unterliegende Verpflichtung des Staates, das sozio-kulturelle Existenzminimum abzusichern. Dem Gesetzgeber und damit dem politischen Wettbewerb obliegt die Untersetzung dieses Grundrechts. Dem Gesetzgeber steht ein Gestaltungsspielraum zu.

Aufgabe linker Politik kann vor diesem Hintergrund sein, dieses Grundrecht zu popularisieren, auf die sich aus diesem Grundrecht ergebenden staatlichen Handlungsaufträge hinzuweisen und im politischen Meinungsstreit das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums weiter zu untersetzen. Beispielsweise dafür zu streiten, dass zu diesem nicht nur Leistungen zum Lebensunterhalt gehören, sondern auch Wohnraum, Zugang zu Bildung und Kultur, Mobilität und Versorgung mit Breitband. Aus dieser Perspektive heraus stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit einer expliziten Verankerung von sozialen Grundrechten im Grundgesetz in einem neuen Licht: Sie ist nicht zwingend nötig, weil es das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bereits gibt.

Und dann wären da noch Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes. Auch hier ist das Grundgesetz bemerkenswert offen. Während Artikel 14 auf der einen Seite eine Eigentumsgarantie (Gewährleistungsgarantie) enthält und auf der anderen Seite eine Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit zulässt, eröffnet der Artikel 15 für Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel sogar die Option, diese in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft zu überführen. Nicht jeder Eingriff in das Eigentum ist im Übrigen eine Enteignung. Auch in der linken Debatte wird dies häufig durcheinandergeworfen.

Eine Enteignung liegt nur dann vor, wenn diese durch das Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgt, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, und die Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit stattfindet. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu gesagt: »Die Gewährleistung des Rechtsinstituts wird nicht angetastet, wenn für die Allgemeinheit lebensnotwendige Güter zur Sicherung überragender Gemeinwohlbelange und zur Abwehr von Gefahren nicht der Privatrechtsordnung, sondern einer öffentlich-rechtlichen Ordnung unterstellt werden.«

Der 70. Geburtstag des Grundgesetzes ist ein guter Anlass, nicht nur eine konkret umsetzbare Untersetzung von Gemeineigentum und anderen Formen der Gemeinwirtschaft zu entwerfen, sondern auch klar und deutlich zu sagen: Mehr Artikel 15 wagen! Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der sozialen Frage zeigt die Notwendigkeit, um die Interpretation der Aussagen des Grundgesetzes zu kämpfen. Dieses Grundgesetz rahmt eine Arena, in der ein fortwährender Kampf um seine Auslegung, um Politik und Gesellschaft stattfinden kann und soll. Sich diesem Kampf zu stellen, ist eine lohnende Herausforderung.

Der 70. Jahrestag des Grundgesetzes könnte der Anfang einer Positionierung der Linken sein, die nicht nach einer neuen Verfassung ruft, sondern die Spielräume für demokratisch-sozialistische Politik im bestehenden Grundgesetz in die politische und gesellschaftliche Debatte einbringt und für deren Umsetzung streitet.

Halina Wawzyniak war von 2009 bis 2017 Mitglied des Bundestages für die LINKE. Eine Langfassung des Textes findet sich auf der Website der Rosa-Luxemburg-Stiftung. www.rosalux.de/publikation/id/40374/mehr-grundgesetz-wagen

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