Bolsonaro bekommt Druck von der Straße

Millionen wollen beim Generalstreik am Freitag dem ultrarechten Präsidenten den Kampf ansagen

  • Jorge Lopes
  • Lesedauer: 5 Min.

In Brasilien stehen soziale Errungenschaften auf dem Spiel. Áurea Carolina nennt die Abschaffung des Solidarsystems für Rente und Daseinsvorsorge als eines der Hauptanliegen der Regierung unter dem rechtsextremen Jair Bolsonaro (PSL, »Sozial-Liberale Partei«). »Vom Streit im Regierungslager dürfen wir uns nicht täuschen lassen: Die unterschiedlichen rechten Lager mögen Widersprüche haben, aber im Parlament haben sie eine deutliche Mehrheit und nutzen diese, wenn es darauf ankommt«, sagte die Abgeordnete der linkssozialistischen PSOL (Partei Sozialismus und Freiheit) im Bundesparlament gegenüber »nd«.

»Diesen zerstörerischen Plan können wir nur verhindern, wenn wir richtig viel Druck auf der Straße organisieren und die verschiedenen Kämpfe zusammen geführt werden«, erklärte Jadira Feghali (PCdoB, »Kommunistische Partei von Brasilien«), Oppositionsführerin im Bundesparlament im Gespräch mit »nd«.

Die sozialen und demokratischen Rechte stehen in Brasilien nicht erst seit der Regierungsübernahme von Bolsonaro unter Beschuss. Schon sein Vorgänger Michel Temer von der rechten MDB (Demokratische Bewegung Brasiliens), der sich als damaliger Vizepräsident in einem umstrittenen Amtsenthebungsverfahren gegen seine Regierungschefin Dilma Rousseff von der PT (Arbeiterpartei) an die Regierung geputscht hatte, deregulierte das Arbeitsrecht, fror Sozialausgaben ein, scheiterte aber mit einem ersten Anlauf zur Demontage der allgemeinen Rentenversicherung an einem Generalstreik im Jahr 2017. Dieser Erfolg soll am 14. Juni nun wiederholt werden.

Die Vorbereitung für den Streik laufen in einer Stimmung zunehmender Polarisierung in Brasilien. Der Monat Mai war geprägt von Massenprotesten für und gegen die Regierung. Radikale Unterstützer*innen von Bolsonaro gingen am 26. Mai in mehr als 150 Städten auf die Straße, nur gut eine Woche nachdem Hunderttausende Regierungsgegner gegen den Kahlschlag im Bildungssektor demonstriert hatten. Auch wenn Bolsonaros Beliebtheitswerte sinken, der harte Kern seiner Unterstützer*innen bleibt davon unberührt. So waren beide Demonstrationen machtvoll, die Bildungsproteste wurden am 31. Mai dann aber sehr erfolgreich wiederholt. »Bei den Protesten gegen den Bildungskahlschlag geht es vor allem um die Verschlechterung der Lehr- und Lernsituation. Die Rechte der Lehrenden in Schulen und Hochschulen werden beschnitten und das Gesamtbudget für Bildung um 30 Prozent reduziert; ein schmerzlicher Einschnitt«, sagte Jadyra Uehara, Bundessekretärin für Sozialpolitik und Menschenrechte beim größten Gewerkschaftsdachverband CUT (»Einheitszentrale der Gewerkschaften«) gegenüber »nd«.

Brasiliens Schulen und Universitäten sind aber nicht nur durch Haushaltskürzungen bedroht - die sich gezielt besonders gegen sozial- und geisteswissenschaftliche Studiengänge richten -, sondern auch andere Projekte stellen Unabhängigkeit und Freiheit der Lehre in Frage. Zum Beispiel das Projekt »Schule ohne Partei«, welches Lehrkräften politische Aussagen im Unterricht verbietet. Es gibt in verschiedenen Bundesstaaten und auf nationaler Ebene Gesetzesvorhaben dazu, aber bereits jetzt ist es den Unterstützern der Zensur gelungen, durch Druck Lehrende um ihren Arbeitsplatz zu bringen. An den Universitäten und auch an vielen Schulen haben sich die Beschäftigten dem Streikaufruf für kommenden Freitag angeschlossen, in den nächsten Monaten werden zudem weitere Bildungsproteste geplant.

Für die Gewerkschaften steht viel auf dem Spiel an diesem 14. Juni, denn die brasilianische Gewerkschaftsbewegung steckt in einer Krise. Diese ist zum Teil selbst verschuldet, aber die Regierung Bolsonaro macht auch ernst mit ihren antigewerkschaftlichen Maßnahmen. So gibt es die bisher vom Staat garantierte verpflichtende Zahlung der Mitgliedsbeiträge der Beschäftigten nicht mehr und die Umstellung auf ein System, bei dem Gewerkschaftsmitglieder selbst aktiv ihren Beitrag zahlen, bedeutet einen Kulturwandel, der nicht von einem Tag auf den anderen zu bewerkstelligen ist. »Die Regierung beschädigt damit absichtlich die Stabilität der Arbeitnehmerorganisationen«, betonte CUT-Sekretärin Uehara. In den 80er Jahren gehörte die Forderung nach Abschaffung des staatlich reglementierten Gewerkschaftsbeitrages noch zu den Hauptforderungen der demokratischen Gewerkschaftsbewegung in Brasilien, deren Vorreiter die CUT war. »Aber wir sind bequem geworden und haben uns angepasst. Seit 2008 haben wir unter der Regierung Lula sogar angefangen, selber den Zwangsbeitrag anzunehmen. Das war ein Fehler, für den wir jetzt bezahlen. Wir haben versäumt in den Jahren, als es politisch möglich gewesen wäre, eine radikale demokratische Reform des Gewerkschaftsmodells in Brasilien durchzuführen.«

Unterstützung bekommen die Gewerkschaften für ihren Aufruf zum Generalstreik aus Politik und organisierter Zivilgesellschaft. Am vergangenen Samstag trafen sich Vertretende von 49 sozialen Organisationen auf Einladung der Landlosenbewegung MST mit den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Fernando Haddad (PT), Manuela D`Avila (PCdoB) und Guilherme Boulos (PSOL) und verabschiedeten eine »Charta für Land und Territorium«, in der sich die Unterzeichnenden für die Verteidigung der Rechte der Landbevölkerung und der sozialen Rechte aller Brasilianer*innen einsetzen.

Neuen Zündstoff für den Generalstreik bringen auch die jüngsten Entwicklungen im Fall des Ex-Staatschefs Luiz Inácio »Lula« da Silva mit sich. Brasiliens Oberster Gerichtshof hat die Beratungen über einen Antrag auf eine Freilassung von Lula vertagt. Die fünf Richter befassten sich am Dienstag in ihrer Sitzung mit anderen Fällen, obwohl Lulas Antrag auf die Tagesordnung gesetzt worden war. Sie wollen aber am 25. Juni über einen weiteren Antrag von Lulas Anwälten verhandeln. Der Antrag stellt die Unparteilichkeit des ehemaligen Richters und heutigen Justizministers Sérgio Moro infrage, der Lula im Jahr 2017 in erster Instanz zu einer Haftstrafe wegen Korruption verurteilt hatte.

Der Fall Lula hat durch Medienenthüllungen der vergangenen Tage erneut an Brisanz gewonnen. Nach einem Bericht der Enthüllungs-Plattform »The Intercept« soll es eine Verschwörung der gegen Lula ermittelnden Staatsanwälte und des Richters Moro gegeben haben, um den linksgerichteten Ex-Präsidenten ins Gefängnis zu bringen und somit bei der Präsidentschaftswahl den Weg für den ultrarechten Kandidaten Jair Bolsonaro frei zu machen. Dieser machte Moro zu seinem Justizminister.

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