Siemens-Chef: Mal eben den NSU »vergessen«

Joe Kaeser erntet heftige Kritik nach Tweet zum neonazistischen Mord an Walter Lübcke

  • Lou Zucker
  • Lesedauer: 3 Min.

Siemens-Chef Joe Kaeser hat mit einem Tweet zum Fall des neonazistischen Mordes an Walter Lübcke einen Shitstorm ausgelöst. Der Top-Manager schrieb auf Twitter: »Das letzte Mal, dass politisch (motivierte) Morde in Deutschland in großem Stil passierten, kamen sie von scharf links mit der RAF«. Er verwies auf den 1986 von der Roten Armee Fraktion ermordeten Siemens-Forschungsleiter Karl Heinz Beckurts. Kaeser widersprach damit einem Tweet des Zentrums für Politische Schönheit, in dem die Aktivist*innen feststellten: »Wir leben wieder im Zeitalter politischer Morde«.

Auf den Tweet des Vorstandsvorsitzenden antworteten über 600 Nutzer*innen. Die überwiegende Mehrheit kritisierte, Kaeser habe mit seiner Aussage die Morde durch den NSU ignoriert. Viele verwiesen auf eine Recherche von »Tagesspiegel« und »Zeit Online«, laut derer seit 1990 mindestens 169 Menschen durch Rechtsextreme getötet wurden.

Nicht alle Reaktionen fielen indes kritisch aus. Thomas Tuma vom »Handelsblatt« schrieb in einem Kommentar: » Twittern Sie weiter, Herr Kaeser! Die Welt braucht Unternehmer und Manager, die sich auch gesellschaftlich und politisch einbringen«. Tuma verwies darauf, dass Kaeser sich auch schon öffentlich gegen die AfD geäußert hatte und verteidigte ihn mit dem Argument, er würde »noch üben, sich auszuprobieren, Grenzen auszuloten«.

Kaeser hat sich inzwischen auf Twitter entschuldigt. Er schrieb als Antwort auf die massive Kritik: »Hier ist offenbar der Eindruck entstanden, ich sei auf dem rechten Auge blind. Im Gegenteil: habe dazu mehrfach klar Stellung bezogen. Es tut mir leid, wenn mein Tweet zu Missverständnissen geführt hat. Ich verachte jede Form von Extremismus & (politisch motivierter) Gewalt.«

Kaesers ursprüngliche Aussage ist vor allem vor dem Hintergrund der Geschichte seines Unternehmens brisant. Siemens hat seinen Aufstieg zu einem der weltgrößten Elektronikkonzerne unter anderem Rüstungsaufträgen durch das NS-Regime zu verdanken. Nach eigenen Angaben fertigte das Unternehmen ab Ende 1943 hauptsächlich für die Deutsche Wehrmacht. Dafür habe Siemens insgesamt 80.000 Zwangsarbeiter*innen beschäftigt, unter anderem aus Konzentrationslagern wie Auschwitz, Lublin oder dem Frauen-KZ Ravensbrück. Laut »Analyse & Kritik« waren um 1944 ein Viertel der Beschäftigten Zwangsarbeiter*innen. Eine Mitverantwortung am Nationalsozialismus habe der Konzern lange von sich gewiesen.

Laut eigener Aussage hat sich Siemens »zu seiner Verantwortung bekannt«, indem es insgesamt 150 Millionen Euro an die Jewish Claims Conference (1962), für den firmeneigenen »Humanitären Hilfsfonds für ehemalige Zwangsarbeiter (HHZ)« (1998–2000) sowie für die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (2000) zahlte. Die »Analyse & Kritik« bezieht sich auf eine Studie des Wirtschaftshistorikers Thomas Kuczynski von 1999, der allein die Höhe der vorenthaltenen Löhne für NS-Zwangsarbeiter*innen durch deutsche Unternehmen auf insgesamt 180 Milliarden DM (92 Milliarden Euro) schätzt. Die von Siemens unterstützte Stiftungsinitiative vereinbarte im Jahr 2000 zusammen mit der Bundesregierung eine Entschädigungszahlung von zehn Milliarden DM (5 Milliarden Euro).

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