Schon 1980 ausgetreten

Ein Erinnerungsband über den SPD-Linken Jochen Steffen könnte etwas spannender sein

  • Fritz Tietz
  • Lesedauer: 6 Min.

Bestimmte Lebensmittel lösten bei dem schleswig-holsteinischen Journalisten, Politiker und Kabarettisten Jochen Steffen (1922-1987) schon als er noch ein Kind war Brechreiz aus. Senf etwa, den der Sozialdemokrat, obwohl »Wurstesser«, deshalb zeitlebens mied. »Sein Vater Karl war ihm dabei Vorbild«, erinnert sich Steffens Sohn Jens-Peter, denn auch »dieser ekelte sich«, zum Beispiel vor »damals noch rot eingefärbten dänischen Hot Dogs (›Eselswurst‹) und Krabben«, und das dermaßen, »dass bereits die Erwähnung ihm das Blut aus dem Gesicht und ihn selbst zur Toilette trieb«. Auch Mutter Else wusste einmal die weit über einen normalen »Basis-Ekel« hinausgehenden Abneigungen ihres Sprößlings zu optimieren, indem sie während eines gemeinsamen Besuchs bei einer in ärmlich-muffigen Verhältnissen lebenden Tante von dem kleinen Jochen verlangte, ihren »ihn abstoßenden Billig-Kuchen« trotzdem »lecker zu finden«. Die Folge: »Er übergibt sich auf dem Plumpsklo und bleibt nach dem Besuch drei Tage im Bett.«

Solche lebendig anschaulichen Details sind leider nur rar gesät in Jens-Peter Steffens Biografie seines Vaters. Vielleicht wäre man sonst dem Autor »beim Aufspüren des Menschen Jochen Steffen« und auch dem Sohn in seinem Ringen »um Abstand zum eigenen Vaterbild« etwas bereitwilliger gefolgt. Vielleicht auch, wenn man sich nicht ständig durch Sätze wie diesen hätte quälen müssen: »Diese Beurteilungskategorien erscheinen mir relevanter für die Person und das Wirken Jochen Steffens, als erneut im Sinne einer verbreiteten Karrierevorstellung von immer höher und immer mehr zu urteilen, ob er scheiterte oder letztlich vor den Bedingungen resignierte.« Der Eindruck, dass hier möglicherweise ein Lektor hätte rettend eingreifen können, täuscht. Eher muss man, erst recht nach etlichen weiteren solcher Satzunglücke, konstatieren, dass da einer einfach nicht anders kann, als leseunfreundlich zu formulieren.

Erschienen ist sein Textmonster in einem seinem Vater gewidmeten Erinnerungsband. »Jochen Steffen - ein politisches Leben« so der Titel des von Jens-Peter mit herausgegebenen und über 700 Seiten fetten Ziegels, der neben seinem und mit Abstand buchstabenreichsten, einige weitere Beiträge von Zeitzeuginnen und Weggefährten enthält über den »roten Jochen«, als der der »Spezialdemokrat« (Jochen Steffen über sich) nicht nur wegen seiner rötlich schimmernden Haare einst bundesweit bekannt war. Obwohl überwiegend im schleswig-holsteinischen Landesverband seiner Partei und in verschiedenen parlamentarischen Funktionen im Kieler Landtag tätig, galt Steffen in der BRD der 1960er und 1970er Jahren als eine der politisch markantesten Persönlichkeiten.

Als marxistisch geschulter Theoretiker wusste er selbst in der, gemessen am heutigen Elend, schier unvorstellbar linken SPD stark zu polarisieren. Nach zwei von ihm angeführten und verlorenen Landtagswahlkämpfen warf er die Brocken ab 1971 Amt für Amt hin. 1980 verließ er gar die SPD. Sie war ihm - damals schon - zu kapitalismusfreundlich geworden.

Im Gegensatz zu den Kohorten der heute tonangebenden Generationen »Golf« beziehungsweise »X« und der nachgeborenen Millennials, denen der Name Jochen Steffen mehrheitlich nichts bis gar nichts sagen dürfte, war er mir als 1958 geborenem Babyboomer schon im frühen Schulalter geläufig. Ein Verdienst meines Vaters, dem von der Roten Armee aus Ostpreußen Verjagten, der nun als Berufsvertriebener in Ostwestfalen hockte und als unbelehrbarer Revanchist den Verlust der von ihm Heimat genannten »Ostgebiete« betrauerte. Ihm galt der SPD-Linksaußen Steffen gleich nach dessen Führungskadern und Genossen Willy Brandt (»Der feine Herr Frahm«), Herbert Wehner (»Fünfte Kolonne Moskaus«) und dem »Ostgrenzenverräter« Egon Bahr als »mit der schlimmste von diesen linken Brüdern«.

Wann immer der Name Steffen in der Zeitung stand oder dieser »seine blöde Fresse« im Radio aufmachte, wünschte ihn mein Vater mit der allergrößten Inbrunst zur Hölle. Umso tragischer, dass es dann ausgerechnet die Partei Steffens war, die während der Kanzlerschaft Willy Brandts mit ihrer fortschrittlichen, vom demokratischen Aufbruch der 68er getragenen Sozialpolitik meinem Vater und meiner Mutter trotz fünffacher Elternschaft und recht unsteten Arbeitsbiografien zu den allerauskömmlichsten Renten verhalf. Unter den heutigen Verhältnissen würden sie davon nicht mal mehr träumen können.

Jochen Steffen indes musste nach dem Ausstieg aus der Berufspolitik erhebliche finanzielle Einbußen hinnehmen, die allein mit den Honoraren aus seiner journalistischen Arbeit für ein Flensburger Wochenblatt und eine Kieler Tageszeitung nicht zu kompensieren waren. Auch die Gagen für seine mitunter recht prominenten Auftritte als Satiriker und Kabarettist halfen ihm in dieser prekären Lebensphase wenig. Dazu kamen die gesundheitlichen Probleme einer »Stresskrankheit«, die »sich immer öfters in depressiven Schüben und Aggressionen« äußerten. Die knappen Andeutungen seines Sohnes von Gesprächen »mit einem angetrunkenen depressiven Vater, der immer wieder seine Existenzängste ausbreitet und mich damit völlig überfordert«, lassen zumindest erahnen, was da los war.

Dabei hatte die Stress-Sauferei durchaus auch für heitere Momente im Leben Jochen Steffens gesorgt - jedenfalls aus Sicht heutiger Leserinnen eines Berichts von einer Wahlkampfveranstaltung 1971 in Kiel. Da habe Willy Brandt von einem Balkon aus eine empathische Rede gehalten, sei aber nach diversen Terminen vorab schon so angeschickert gewesen, dass der hinter ihm stehende Steffen befürchtete, Brandt könne über die Brüstung kippen. »So hält er ihn während der gesamten Rede an seinem Jackenschoß fest.« Dass Jochen Steffen zumindest wirtschaftlich nicht kippte, hat er letztlich Rudolf Augstein zu verdanken, der dem gelernten Redakteur Steffen durch die Beauftragung einiger »Spiegel«-Essays und ab 1973 mit monatlichen Zuwendungen über die gröbsten finanziellen Engpässe hinweghalf. Die Auszüge aus einem Dankesbrief Steffens an Augstein gehören zu der eindrücklichsten, weil anrührendsten Passage in den, wie schon erwähnt, mit Emotionen und biografischen Details leider zu knapp getränkten Ausführungen seines Sohns.

Gern hätte man auch noch etwas mehr über einen Jochen Steffen erfahren, der in seiner Jugend »als wendiger Fußballer gilt, oftmals hart spielt und ein Foulspiel gegen sich theatralisch moniert«. Oder über einen, der als Gymnasiast auf dem Weg zur Kieler Tanzschule Gemind auf der Holtenauer Straße derart ausrutscht, dass ihm »wegen seines verdreckten Zustands … der Zugang zur Tanzschule verwehrt« wird.

Immerhin wird ein Autounfall von 1972 mit dem »Citroën Pallas Athene mit Ledersitzen« - für Jochen Steffens Frau Ilse »das schönste ihrer vielen Autos« - dramatisch geschildert: »Ilse stoppt an einer Kreuzung, auf der Straßenbahnschienen liegen. Jochen ist … erregt und schreit, ›fahr doch, fahr doch!‹ Ilse wendet … vor eine von hinten kommende Straßenbahn, mit einem Kick-down versucht sie dem klingenden Ungetüm zu entkommen, doch die Bahn trifft den Wagen am Heck … Jochen ist nicht angeschnallt, noch gibt es keine Gurtpflicht. Er wird … aus dem Sitz gehoben … an das Armaturenbrett geschleudert. Der Aufprall bricht ihm mehrere Rippen, während Ilse mit einem leichten Schock davonkommt. Im Kofferraum des Citroën gehen eine Palette Landeier und marokkanische Wolle eine nicht wieder zu trennende Verbindung ein.«

Uwe Danker/Jens-Peter Steffen (Hg.): Jochen Steffen - Ein politisches Leben. Gesellschaft für Politik und Bildung Schleswig-Holstein, 736 S., br., 39,80 €.

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