Aller NS-Opfer gedenken

Ulla Jelpke und Jan Korte über die Erinnerung an den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg

  • Ulla Jelpke und Jan Korte
  • Lesedauer: 3 Min.

Der deutsche Überfall auf Polen am 1. 9. 1939 und die Vernichtungspolitik gegenüber der polnischen Zivilbevölkerung war der Beginn der sogenannten NS-Lebensraumpolitik in Ostmitteleuropa. Antisemitismus und Rassismus verbanden sich hier mit der »NS-Lebensraumpolitik« zu einem systematischen Raub- und Vernichtungsfeldzug gegen Polen, die Sowjetunion, aber auch Jugoslawien und andere Nationen. Der Vernichtungskrieg der Nazis in Ostmitteleuropa hinterließ eine unvorstellbare Spur menschlichen Leids und traumatisierte nachkommende Generationen der Opfer. Beschämend wenig ist davon in der heutigen deutschen Öffentlichkeit bekannt.

Seit 2013 setzt sich die Initiative »Gedenkort für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik« für einen solchen Gedenkort in Berlin ein. Als Fraktion unterstützen wir dies. Unser aktueller Antrag »Gedenkort für die Opfer des NS-Vernichtungskrieges in Osteuropa« (18/4917) strebt eine interfraktionelle und mehrheitsfähige Initiative an. Ziel ist eine Initiative für einen Gedenkort für alle Opfer des NS-Vernichtungskrieges noch in dieser Wahlperiode zu erreichen.

Anlässlich des 80. Jahrestages des Überfalls auf Polen sammelt nun eine interfraktionelle Abgeordnetengruppe seit einigen Wochen Unterstützer*innen für ein »Polen-Denkmal«. Ihr Appell setzt sich dafür ein, einen eigenen Gedenk- und Lernort für die Opfer der deutschen Besatzung in Polen einzurichten. Der Aufruf ist durchaus nachvollziehbar. Er benennt korrekt die gravierenden Wissens- und Erinnerungslücken der deutschen »Erinnerungskultur«. Dennoch halten wir ihn für hochproblematisch, gerade in seiner einseitigen Fokussierung auf polnische Opfer. Der Vernichtungskrieg hat in Polen begonnen, er hat sich aber nicht auf Polen beschränkt.

Es ist kaum vermittelbar, dass man von den vielen Ländern, die dem Vernichtungskrieg zum Opfer fielen, nur Polen ein »eigenes« Denkmal widmet. Eine Hierarchisierung des Gedenkens ist immer problematisch. Nach welchen Kriterien sollte Polen dabei an oberster Stelle stehen, und Russland, Ukraine, Belarus ignoriert werden? Weder das Kriterium des Zeitpunkts des deutschen Überfalls kann das rechtfertigen, noch eines wie die absolute oder relative Zahl der Opfer oder die Länge der Besatzung. Die Schaffung eines »Polen-Denkmals« bei gleichzeitiger Ignorierung des Völkermordes in den Ländern der damaligen Sowjetunion ist aber nicht nur aus deutscher Sicht erinnerungspolitisch fragwürdig.

Sie könnte auch vorhandene Konflikte um Erinnerungspolitik zwischen Polen und der Ukraine, aber auch zwischen Polen und Belarus verschärfen, bzw. diese erführen unter dem Deckmantel der NS-Aufarbeitung eine unangemessene Einmischung aus Deutschland. Unser Antrag für einen »Gedenkort für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik« weist im Großen und Ganzen auf die gleichen Lücken in der Erinnerungskultur hin, wie die Polen-Initiative, nur wird hier klargestellt: Diese Lücken beziehen sich auf ganz Osteuropa. Ausdrücklich wird festgestellt, dass bereits der Überfall auf Polen 1939 der Beginn eines Krieges war, der immer auch unter rassistischer Maßgabe geführt wurde, der Ideologie vom »Untermenschentum« folgte und der Auftakt für einen Vernichtungsfeldzug war, der sich weiter fortsetzte.

Die rassenideologisch motivierten Verbrechen im Raub- und Vernichtungskrieg in Osteuropa erfolgten in einem inneren Zusammenhang, der durch Separierung, Nationalisierung und Priorisierung nicht künstlich aufgerissen werden sollte. Deutschland hat die Pflicht, Verantwortung für die Erinnerung an das von deutscher Seite geplante und umgesetzte Geschehen in seinem vollen Umfang nachzukommen. Insofern kann aus unserer Sicht nicht eines Teils des NS-Vernichtungskrieges gesondert gedacht werden, ohne die anderen Teile ebenfalls zu thematisieren. Denn eine Opferhierarchie ist sicherlich das Letzte, was von uns zum Ausdruck gebracht werden sollte.

Würde man sich vor allem auf das angestrebte Polen-Denkmal konzentrieren, würde zurecht seitens der diversen Nachfolgestaaten der SU nach einem vergleichbaren Mahnmal für die 27 Millionen Toten der Sowjetunion gefragt. Die von der Sowjetunion in Berlin errichteten Mahnmale sind kein Ersatz für ein Gedenken von Seiten der Bundesrepublik. Die Folge wäre also die Aufsplittung in einzelne Gedenkorte. Eine solche Entwicklung wäre für die Herausbildung eines historischen Bewusstseins geradezu kontraproduktiv.

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