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Blitze in den Augen

Gina Lückenkemper ist die schnellste Frau im Land - und das Gesicht der deutschen Leichtathletik. Ein Besuch in ihrer westfälischen Heimat

  • Andreas Schirmer
  • Lesedauer: 4 Min.

Soest ist gar nicht weit weg vom geografischen Mittelpunkt Westfalens, aber irgendwie am Ende der Welt. »Tief im Westen ist eigentlich hier«, sagt Gina Lückenkemper. Deutschlands schnellste Frau ist im nahen Hamm geboren, in der 47 500-Einwohner-Stadt Soest groß geworden und mit der Region verwachsen. Und bisher hat die 22 Jahre alte Sprinterin, die in den Metropolen der Welt mit schnellen Schritten Karriere macht, nicht den unbedingten Drang, der westfälischen Idylle und Geborgenheit den Rücken zu kehren. Ganz im Gegenteil: Mit steigender Popularität ist Soest ein Rückzugsort geworden, in dem sie ihre Ruhe hat und in Ruhe gelassen wird.

So lässt es sich auch gut trainieren. Bepackt mit Sporttasche, Startblock und einer Art Campingstuhl geht sie zur Tartanbahn des Leichtathletikzentrums in Soest, um zu trainieren. Nur wenige hundert Meter entfernt hat sie im Conrad-von-Soest-Gymnasium ihr Abitur gemacht. Auf der weitläufigen Anlage ist sie abgesehen von einem älteren Mann, der seine Runden mit lautem Keuchen dreht, und einer in der Ferne trainierenden Werferin ganz für sich. Ihr Coach Uli Kunst ist nicht ständig dabei. »Ich trainiere ohnehin viel allein«, sagt Lückenkemper. »Ich kann mich derart in den Arsch treten, dass ich sogar weine, wenn ich mich verausgabe.«

Mit Kopfhörern geht sie langsam zwei Runden auf der 400 Meter langen Bahn. Für Lückenkemper könnte gerade dies eine besondere Anstrengung sein, weil sie ansonsten alles sehr flott macht. Die schnelle Läuferin, die gern schnelle Autos fährt, würde auch keinem Wettessen aus dem Wege gehen. »Da kann ich mitmachen und würde nicht Letzte werden.« Auf’s Tempo drückt sie auch im Gespräch, weil »sie sehr gerne, sehr viel und sehr schnell« rede. Auch, als sie Plastikhütchen nach genauer, per Handy übermittelter Anweisung des Trainers in bestimmten Abständen auf der Tartanbahn verteilt, um Schrittrhythmus und -länge auf den ersten Metern nach dem Start zu automatisieren, redet und lacht sie. Nach dem Platzieren der Hütchen wird »Erwin«, wie sie den rot gefärbten Startblock nennt, auf der Startlinie aufgebaut.

Für die nach ersten Erfolgen schnell gereifte Sprinterin, die sich als Lauf-Vollprofi sieht, darf auch der Spaß und die Freude am Sport und am Leben nicht fehlen. Deshalb hat ihr Startblock einen Namen. Wegen dieser positiven Ausstrahlung, Fröhlichkeit, oft verblüffenden Offenheit und verschmitzten Cleverness ist sie in der ersten Reihe der beliebtesten Sportler in Deutschland angekommen.

Als 18-Jährige war sie bei der WM 2015 am Start, ein Jahr später gewann sie bei der EM Bronze über 200 Meter und mit der Staffel. Bei den Olympischen Spielen 2016 sprintete das Quartett auf Platz vier knapp an einer Medaille vorbei. Wiederum ein Jahr später lief sie bei der WM die 100 Meter in 10,95 Sekunden, so schnell wie seit 26 Jahren keine deutsche Frau mehr. Ihr »Karriere-Highlight« war aber die EM 2018 in Berlin, wo sie Vizeeuropameisterin wurde und Staffel-Bronze gewann.

»Für mich ist es nicht nur ein Job, sondern ich mache ihn mit Leidenschaft. Das ist etwas, was ich liebe«, sagt Lückenkemper. So schafft sie auch die sechs Trainingseinheiten á drei Stunden pro Woche leichter. Dabei geht es auch um stete Perfektionierung von Technik, Körperhaltung, Beschleunigung und des Starts. So entdeckte sie erst im Frühjahr im Trainingslager in Japan, als die Staffelkolleginnen ihr regelmäßig auf den ersten 30 Metern davonrannten, dass ihr Startblock jahrelang falsch eingestellt gewesen war. Eine Umstellung auf eine biomechanisch günstigere Position ist nicht so einfach. Lars Lienhard, auf deren Neuroathletik sie schwört, half ihr dabei. Mit einer Brille, deren Blitze die Augen irritieren, um den Körper fühlbarer zu machen.

Wohin das noch führen kann? Eine Zeit um 10,80 Sekunden hält Lückenkemper für realistisch, »eine 10,70er-Zeit vielleicht mit dem perfekten Rennen«. Dopingmittel für die illegale Beschleunigung kommen nicht infrage: »Ich könnte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, meinen Körper mutwillig zu zerstören.«

Jenseits der Jagd nach Edelmetall und dem Kick, als Gesicht der deutschen Leichtathletik allseits hofiert zu werden, gibt es noch eine andere Seite der Gina Lückenkemper. Jedes Jahr falle sie in »ein mentales Loch«. Manchmal dauere es nur ein paar Tage, 2017 sei sie sogar zwei Wochen lang nicht in der Lage gewesen, zu trainieren. »Es ist eine allgemeine Seelenlage, die aber durch den Sport verstärkt wird«, erzählt sie.

Zuletzt tat die lange Wettkampfpause gut, um neue Kraft zu schöpfen. Jetzt geht es wieder richtig los, am Wochenende mit den Deutschen Meisterschaften, der Höhepunkt folgt mit der WM Ende September in Doha. Aber egal, wie schnell sie noch laufen wird, verändern lassen will sie sich nicht: »Ich möchte ich bleiben, die Gina aus Westfalen, der die Schnauze so gewachsen ist, wie sie redet.« Für sie sei es ein Gewinn, Menschen mit kleinen Gesten wie einem Selfie im Supermarkt glücklich zu machen. dpa/nd

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