Verteilung mangelhaft

Grundschullehrer fehlen überall, aber besonders an Brennpunktschulen. Dabei wäre hier eine bessere Ausstattung als anderswo nötig.

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 4 Min.

Fehlprognosen zu den Schülerzahlen der Zukunft haben in Deutschland fast schon Tradition. Noch 2013 verkündete die Kultusministerkonferenz (KMK), in der die Verantwortlichen der für Bildungsfragen zuständigen Bundesländer zusammenkommen, einen deutlichen Rückgang. Im letzten Jahr machte die KMK dann plötzlich eine Kehrtwende. Zwischenzeitlich war die Geburtenrate gestiegen, außerdem wurden immer mehr Kinder aus geflüchteten Familien schulpflichtig. Die neueste Projektion, die das Statistische Bundesamt vergangene Woche vorlegte, präsentierte dann noch drastischere Zahlen: Ihr zufolge werden Ende des nächsten Jahrzehnts knapp 170 000 Kinder mehr eingeschult als bisher erwartet - ohne dass ausreichend pädagogisches Fachpersonal zur Verfügung steht. 2025, so die aktuelle Bestandsaufnahme, fehlen nun nicht gut 15 000, sondern mindestens 26 000 Lehrerinnen und Lehrer allein im Primarbereich - also über 70 Prozent mehr als angenommen.

Die korrigierten Voraussagen bestätigen lange ignorierte Warnungen. Immer wieder haben Expertisen die vorhandenen Kapazitäten für unzureichend erklärt. Sie forderten die Verpflichtung zusätzlicher Lehrkräfte und eine realistische Stellenplanung. Denn gerade auf die expandierenden Großstädte kommen gravierende Probleme zu: Dort wächst die Zahl der Schülerinnen und Schüler besonders rasant. Doch zu wenig wurde in Gebäude, Materialien und Personal investiert.

Jetzt ist der »Lehrermangel« wieder Thema, angeblich kommt er ganz überraschend. In Wirklichkeit offenbart er die massiven bildungspolitischen Versäumnisse der Vergangenheit. Vor allem in den Grundschulen fehlen Lehrerinnen und erst recht Lehrer - männliche Pädagogen machen dort nur zwölf Prozent der Fachkräfte aus. Doch es ist wichtig, auch regional genauer hinzusehen: Besondere Lücken tun sich im ländlichen Räum und in städtischen »Problemvierteln« auf.

Die Ursachen dieser Schieflage liegen in einem falschen Verständnis von Gleichbehandlung. Denn es macht einen riesigen Unterschied, ob Lehrende in einer bürgerlichen Wohngegend oder an einer sogenannten Brennpunktschule unterrichten. »Wo sich die Probleme ballen, wo wir massive Kinderarmut haben, da ist das viel mehr Arbeit, aber trotzdem ist die Ausstattung nicht besser als anderswo«, kritisiert Ilka Hoffmann, im Hauptvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) für den Primarbereich zuständig. Die Schulen könnten eben nicht alle gleich behandelt werden, wegen der größeren Belastungen brauchten Brennpunktschulen mehr Geld und »die Kolleginnen und Kollegen auch mehr Freiheiten, etwa eine geringere Unterrichtsverpflichtung«. Das Beispiel der Rütli-Schule im Berliner Bezirk Neukölln, so Hoffmann, habe einen Weg zur Veränderung aufgezeigt. Mit zusätzlichen Ressourcen sei ein Imagewandel möglich, der Schulen wieder attraktiv mache - für Eltern, aber auch für neues Lehrpersonal.

Die Unterversorgung auf dem Land sieht die Gewerkschafterin hingegen relativ gelassen - obwohl auch hier ein massives Gefälle existiert. In der ostsächsischen Region Bautzen zum Beispiel konnte zuletzt lediglich ein Drittel der freien Grundschullehrer-Stellen besetzt werden; in Leipzig dagegen gab es ein Überangebot an Bewerbungen. Von Zwangsverschickungen in unbeliebte Gegenden - die im Lehramtsreferendariat üblich sind und auch für andere Berufe wie etwa Mediziner diskutiert werden - hält Hoffmann dennoch wenig. Sie plädiert für Überzeugungsarbeit: Jungen Lehrenden könne man eigentlich nur raten, an einer Landschule einzusteigen, denn meist sei der Umgang mit den Schülerinnen und Schüler dort einfacher.

Wirkungsvolle Strategien gegen die ungleiche Verteilung der umworbenen Grundschullehrkräfte macht die GEW nur in wenigen Bundesländern aus. So wurde in Berlin, wie auch in Brandenburg und Sachsen, die Bezahlung im Primarbereich an die der Gymnasien angeglichen. Das erfüllt eine alte Forderung der Bildungsgewerkschaft, die in manchen Fällen eine Gehaltserhöhung um bis zu 500 Euro bedeutet - und damit einen finanziellen Anreiz bietet, an der Grundschule zu unterrichten. Anderswo arbeitet man mit (vor allem didaktisch nicht immer ausreichend qualifizierten) Seiteneinsteigern, lockt mit dem Beamtenstatus oder überredet künftige Pensionäre mit Zulagen zum Bleiben.

Als Vorbild für eine gerechte Ressourcenverwendung führt Ilka Hoffmann den »Sozialindex« im Stadtstaat Hamburg an. Detailliert analysiert der Senat dort in jedem Wohngebiet und an jeder Schule die spezifischen Problemlagen - und gewichtet die Höhe der Investitionen je nach Bedarf. »Wenn Brennpunktschulen sich dann später verbessern, droht ihnen leider die Streichung der zusätzlichen Mittel«, bedauert die Gewerkschafterin den üblichen Mechanismus. »Gute pädagogische Arbeit« in einem schwierigen Umfeld dürfe man nicht durch den Entzug von Freiräumen und Finanzen bestrafen.

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