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Was haben Sie denn vorzuweisen?

Mit den Gilets Jaunes ging ein Zyklus erfolgloser linker Politik zu Ende, erklärt Guillaume Paoli in seiner Schrift »Soziale Gelbsucht«.

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 6 Min.

Sie wurden schon oft totgesagt, viele Kommentatoren konnten gar nicht erwarten, dass diese irritierende Bewegung schnell ein Ende nehme. Doch die Gilets Jaunes haben all den Abgesängen getrotzt und bemerkenswerte Ausdauer bewiesen. Auch wenn über die Monate die Teilnehmerzahlen an den Protesten zurückgegangen und die mehr als 3000 Kreisverkehre, die am 17. November in ganz Frankreich besetzt worden waren, inzwischen geräumt sind, kann von einem Ende der Bewegung keine Rede sein. Statt einer Beerdigung feiert sie Geburtstag: Seit einem Jahr demonstrieren Woche für Woche Menschen in verschiedenen Städten des Landes. Anfänglich begehrten sie gegen die geplante Erhöhung einer Spritsteuer auf, inzwischen stehen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und alternativen Formen der Repräsentation im Mittelpunkt, neuerdings spielt auch die Solidarität mit ähnlichen Bewegungen, etwa in Chile, eine Rolle.

Ihr Symbol - die gelbe Warnweste, die seit zehn Jahren vorschriftsmäßig in jedem Auto griffbereit sein muss - heißt im Amtsfranzösisch gilet de haute visibilité, Weste für erhöhte Sichtbarkeit, wie der französisch-deutsche Autor Guillaume Paoli in seinem kürzlich erschienenen Buch »Soziale Gelbsucht« erklärt. Das hat einen tieferen Sinn, als es auf den ersten Blick scheint: Denn mit den zunächst spontanen Protesten begannen sich Menschen zu artikulieren, die mehrheitlich zuvor noch nie politisch aktiv gewesen waren, noch nie demonstriert hatten, keiner Gewerkschaft oder Partei angehören, die oft Arbeit haben, aber nur knapp über der Armutsgrenze leben. Menschen, die sich und ihre Anliegen im französischen politischen System der Fünften Republik, das einen Präsidenten hervorgebracht hat, der im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen nur von 18 Prozent der Stimmberechtigten gewählt wurde, nicht vertreten fühlen, die dort oft übersehen werden.

Anders jedenfalls ist kaum zu begreifen, weshalb Emmanuel Macron dachte, man könne nach Jahren des Einsparens kleiner Bahnlinien in den Provinzen mir nichts dir nichts die Spritsteuer erhöhen - sozial ungerecht, weil es eine einkommensunabhängige Abgabe ist. Regional ungerecht, weil es eben jene, die nicht in den großen Städten des Landes leben, übermäßig betrifft, weil sie gar keine andere Wahl haben, als das Auto zu benutzen. Die Regierung hat diese Menschen nicht gesehen, und sie hat deswegen auch den Ausbruch von Wut nicht kommen sehen, der dann monatelang die öffentliche Debatte in Frankreich bestimmte. Viele, die am 17. November auf die Kreisverkehre gingen - Paoli nennt diese Verkehrsinseln »Nicht-Orte« - und dort teils wochenlang blieben, haben es ja selbst kaum geglaubt. Und die »Weste für erhöhte Sichtbarkeit« gab der Bewegung überdies eine Farbe, die politisch nicht besetzt war und eine Ästhetik, die auch mit den linken Protestkulturen der vergangenen Jahre brach.

Paolis Essay ist eine von inzwischen mehreren deutschsprachigen Publikationen zum Thema. Auch das ist Begleiterscheinung der Ausdauer der Bewegung: Ihre Historisierung hat begonnen, ehe sie Geschichte ist. Seine empathische, gar nicht erst »Unparteilichkeit« vorgaukelnde Schrift ist auch zu verstehen als Reaktion auf eine aufgeregte Debatte darüber, was die Gilets Jaunes eigentlich seien: rechts, links, unpolitisch, umweltfeindlich, das »68« des Mittelstands?

Paoli lässt nichts davon gelten. »Aufstand des Mittelstands« sei ein Widerspruch in sich, Mittelstand keine soziologisch relevante Kategorie, sondern nur eine »konzeptuelle Waffe zur Konfliktneutralisierung« und eine Geistesverfassung. »Wo Aufstand ist, hört Mittelstand auf«, sagt er. Rechts ist die Bewegung ebenfalls nicht: Alle Empirie - etwa repräsentative Befragungen der Gilets Jaunes durch Wissenschaftler - konnten diesen früh erhobenen Vorwurf widerlegen. Die Mehrheit derer, die an den Kreisverkehren und auf den Samstagsdemonstrationen protestierte, verortet sich eher als links oder unpolitisch, nur eine kleine Minderheit als rechts, regionale Unterschiede eingeschlossen. Auch Zusammenschlüsse mit antirassistischen Initiativen gab es schon früh. Bei den Europawahlen blieb die aktive Basis der Gilets Jaunes größtenteils zu Hause. Marine Le Pens »Rassemblement National«, die anfänglich die Bewegung zu instrumentalisieren versuchte, wandte sich schnell wieder ab. Einzelne Ereignisse wie die antisemitische Attacke auf Alain Finkielkraut am Rande einer Demo in Paris seien von Politik und Privatmedien hochgejazzt worden, so Paoli, um die Bewegung zu diskreditieren.

Allerdings: Auch links ist die Bewegung nicht, zumindest nicht im traditionellen Sinne. Vielmehr markiert sie das Ende eines langen Zyklus von »defensiven gewerkschaftlich organisierten Arbeitskämpfen«. Wie ist das gemeint? Es gab in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe großer Protestbewegungen in Frankreich: Etwa »Nuit debout«, die Platzbesetzungsbewegung gegen François Hollandes Reform des Arbeitsrechts von 2016, die vor allem in den Städten junge Menschen auf die Straßen brachte und der sich die Gewerkschaften anschlossen. Oder die gewerkschaftlichen Massenproteste im Jahr 2017 gegen die erneute Arbeitsrechtsreform, diesmal unter Macron. Und im Frühjahr 2018 die Streikbewegung der Eisenbahner gegen die Abschaffung ihres Sonderstatus, bei dem die Gewerkschaft eine herbe Niederlage einstecken musste.

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Hier besteht ein Zusammenhang mit den Gilets Jaunes: Der Streik scheiterte wie so viele gewerkschaftliche Kämpfe zuvor, kurze Zeit später trat eine Bewegung neuen Typs auf den Plan. Sie war erstens von einer ungebremsten Wut auf die Regierung und zweitens von Skepsis gegenüber den Gewerkschaften gekennzeichnet und ist es, trotz vielseitiger Annäherungen, nach wie vor. Gewerkschaftsmitglieder waren zwar meist willkommen auf den Demonstrationen, gerade die linkeren Verbände schlossen sich vielerorts den Gilets Jaunes an; für Dezember sind gemeinsame Streiks gegen neue Rentenpläne der Regierung angekündigt. Zu keinem Zeitpunkt aber ließen sich »die Gelben« im traditionellen Sinne gewerkschaftlich vertreten. Ein Grund übrigens für ihre zunächst ungeheure Wucht: Obgleich in den Jahren zuvor teils deutlich größere Proteste stattgefunden hatten, gab die Regierung im Fall der Gilets Jaunes schnell nach, verschob die Steuererhöhung und schob noch im Dezember 2018 ein Maßnahmenpaket sowie eine »große nationale Debatte« hinterher. Sie musste reagieren, denn es fehlten ihr die Verhandlungspartner, um am runden Tisch einen »Kompromiss« auszuhandeln. Zwar wurden die »Zugeständnisse« Macrons ebenso wie die nationale Debatte als unzureichend kritisiert, doch waren sie auch ein Erfolg der Bewegung, so schnell erzielt, dass viele sich in ihrer Suche nach neuen Formen von Protest und in der strikten Ablehnung von Anführern bestätigt sahen.

Indem er auch dies herausarbeitet, widerspricht Paoli jener linken Deutung, der zufolge nach anfänglicher Unbestimmtheit die Gelbwestenbewegung von radikalen Linken und Gewerkschaftern quasi »korrekt« aufgegleist worden wäre. Paoli kritisiert das linke sich Anschließen sanft. Nicht etwa, dass es geschah, sondern wie. Er stellt an jene, die mit ihrer Erfahrung die Gelbwesten der ersten Stunde beglücken wollten, eine betörend-provozierende Frage: Was habt ihr denn vorzuweisen? Man kann das so lesen: Ihr erfahrenen Aktivisten und gestandenen Gewerkschafter habt Demos organisiert, Bewegungen angeführt, ihr wisst, wie man eine Veranstaltung moderiert. Aber was habt ihr verteidigt? Was je gewonnen? Was habt ihr eigentlich erreicht?

Nach Jahrzehnten, in denen die organisierte Linke quasi von Niederlage zu Niederlage geschritten und stets in den Metropolen verblieben ist, in denen nach den Kommunisten auch die Sozialdemokraten der Sozialistischen Partei auf die Größe einer politischen Kleingruppe geschrumpft sind und die Gewerkschaften an Macht verloren haben, sind die Gilets Jaunes eine folgerichtige Reaktion. Und zwar eben nicht nur auf Macron, sondern auch auf die erfolglose linke und gewerkschaftliche Politik der vergangenen Jahrzehnte. Sie konnten gar nicht anders, als »anders« zu sein, denn hier scheint »ein neues Klassensubjekt stammelnd zu sich kommen zu wollen«. Man wünschte sich, es gäbe mehr Intellektuelle, die - wie Paoli - bereit sind, dem Stammeln zu lauschen und es zu entschlüsseln.

Guillaume Paoli: Soziale Gelbsucht. Matthes & Seitz, 161 S., br., 10,99 Euro.

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