Nicht mehr peinlich

Zuversichtlich statt zerstritten: Das Magazin »Jacobin« erscheint bald auf Deutsch

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 5 Min.

Die heutige Linke ist ein bisschen wie Hamlet: ein zaudernder Melancholiker, der beim Versuch, die Ehre seines toten Vaters zu verteidigen, einen vernichtenden Familienzwist heraufbeschwört. Und wenn sich am Ende alle Dänen gegenseitig umgebracht haben, kommen die Norweger, um den Laden kampflos zu übernehmen. So stellt der Dramaturg Bernd Stegemann im Berliner Ensemble seine neue Gesprächsreihe »Linke Melancholie« vor. Man muss dieser Logik nicht bis ins Letzte folgen, um gleichwohl beklagen zu können, dass sich eine allzu zaghafte und zerstrittene Linke nicht der derzeitigen Themen annehmen kann.

Etwas dagegen unternehmen möchte Ines Schwerdtner, Chefredakteurin des Magazins »Jacobin«, das nächstes Jahr erstmalig auf Deutsch erscheint. Gegründet hat die Zeitschrift 2010 der US-Amerikaner Bhaskar Sunkara, der die Linke damals nicht mit Hamlet verglich, sondern mit einem Onanisten in der U-Bahn, der zwar von allen verstohlen beäugt wird, mit dem aber niemand etwas zu tun haben will. Aus dieser Schmuddelecke hat Sunkaras »Jacobin« die US-amerikanische Linke erfolgreich herausgeführt, sie wieder hübsch, hip und vor allem unter jungen Menschen auch wieder zu einer Art Massenbewegung gemacht.

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Entstanden im Student*innenzimmer des damals 21-Jährigen im Zuge der großen Enttäuschung über die Politik des Hoffnungsträgers Barack Obama, hat »Jacobin« heute mehr als eine Million Online-Leser und eine Druckauflage von 40 000 - dem allgemeinen Zeitungssterben zum Trotz. Dabei profitierte das Magazin auch von der Renaissance »sozialistischer« Ideen seit Bernie Sanders’ Präsidentschaftskampagne 2016. »Jacobin« konnte sich mit den pointierten, politisch wie popkulturell bestens informierten und bunt illustrierten Analysen als »die Stimme der amerikanischen Linken« behaupten.

Nach Italien 2018 und Brasilien 2019 soll im März 2020 nun also ein Ableger in Deutschland, Österreich und der Schweiz erscheinen. Auch hierzulande könnte eine zögerliche Linkswende eine attraktive publizistische Unterstützung gut gebrauchen. Die sozialistische Mission von »Jacobin« ist letztlich der Klassenkampf, die Mobilisierung und Solidarisierung weiter Teile der Arbeitnehmer*innenschaft im Kampf gegen das Kapital. Das ist ein langer Weg, fehlt es doch momentan noch weitgehend überhaupt an einem entsprechenden Klassenbewusstsein.

40 Jahre Neoliberalismus haben den einstigen sozialdemokratischen Klassenkompromiss wieder aufgebrochen und die Arbeitnehmer*innenklasse fragmentiert und entsolidarisiert, sagt Schwerdtner (wie Sunkara Jahrgang 1989). Die Stärkung von Minderheitenrechten im Rahmen von Anerkennungspolitik erzeuge den Schein von Progressivität, lasse aber die materiellen Verhältnisse unangetastet, ergänzt Stegemann. »Es kann allerdings nicht darum gehen, Anerkennungs- oder Identitätspolitik und Klassenpolitik gegeneinander auszuspielen, sondern sie müssen gemeinsam umgesetzt werden«, so die Chefredakteurin. Personifiziert wird genau diese Verbindung der beiden Ansätze in den USA etwa durch die demokratische Kongress-Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, die als junge Frau puerto-ricanischer Abstammung mehrere diskriminierte Gruppen repräsentiert und zugleich für eine demokratisch-sozialistische Klassenpolitik eintritt.

Was in den USA derzeit als »demokratischer Sozialismus« firmiert, würde in Deutschland freilich eher als klassische Sozialdemokratie durchgehen. Der Begriff »Sozialismus« sei hier außerdem durch die konkrete Diktaturerfahrung der DDR vorbelastet, meint Schwerdtner. Aber aus demselben Grund ist die ursprüngliche »Idee des Sozialismus« (Axel Honneth) in Deutschland auch noch bei vielen lebendig. So gibt es offensichtlich auch nach wie vor ein großes Resonanzpotential für linke Politik. Das habe man 2017 nach der Wahl von Martin Schulz zum SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten gemerkt und sehe es auch bei der aktuellen Vorsitzendenkür wieder. »Deutschland ist eben ein sehr sozialdemokratisches Land«, so Stegemann. Nur seien all die Sozialdemokraten seit der Tragödie der Hartz-Reformen im Grunde heimatlos und die SPD diskreditiert. Womöglich gar noch für die nächsten 20 Jahre, befürchtet Schwerdtner. Doch Beispiele wie Jeremy Corbyns Labour-Partei in Großbritannien zeigten, dass ein Linksruck auch schneller erfolgen kann - es müsse dann eben ein klarer Bruch sein.

»Jacobin« möchte zu diesem Linksruck allerdings dezidiert jenseits von Personaldebatten beitragen, die die sonstige Presse ohnehin schon weit über Gebühr beschäftigt. An deren Stelle sollen strategische Analysen zur Vergrößerung einer linken Machtbasis treten. Und was nütze es hier, sich selbstgenügsam am eigenen Nischendasein im besetzten Haus in Kreuzberg zu erfreuen, wenn drum herum gerade die nächste Immobilienblase platzt?

Doch wer den Kapitalismus bekämpfen will, muss ihn erst einmal verstehen. Daher ist die erste Veröffentlichung des »Jacobin« herausgebenden Brumaire-Verlags eine Sammlung dreier Broschüren: das »ABC des Kapitalismus« des US-amerikanischen Soziologen Vivek Chibber, durch deren Verkauf zugleich das erste »Jacobin«-Heft finanziert werden soll. Chibber beschreibt in analytischer Schärfe die Systemlogik des Kapitalismus, sein Verhältnis zu staatlicher Macht und Klassenkampf - und warum das die allermeisten von uns existenziell angeht.

Analytisch gesehen ist die Arbeiter*innenklasse, also diejenige der abhängig Beschäftigten, in Deutschland noch nie so groß gewesen wie im Jahr 2019. Aber um daraus auch einen Vorteil zu ziehen, muss diese kollektiv handeln - und sich dazu überhaupt erst wieder als Kollektiv, als Klasse begreifen. Chibber und »Jacobin« wollen ihr dabei behilflich sein. Die erste Auflage des »ABC« jedenfalls war nach weniger als einem Monat ausverkauft. Kein Grund zu linker Melancholie also, eher zu sozialistischer Zuversicht.

Zum Weiterlesen: www.jacobin.de Veranstaltungsreihe »Linke Melancholie«, Berliner Ensemble. www.berliner-ensemble.de/reihen-extras

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