Scheinverzwergung

Velten Schäfer über Corbyns Niederlage und die Folgen

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 2 Min.

Schwer zu sagen, wer lauter über das Wahlergebnis im - noch - Vereinigten Königreich gejubelt hat: Boris Johnson oder Johannes Kahrs? In jüngsten Jahren galt Jeremy Corbyn als Beleg dafür, dass sich die gebeutelte europäische Sozialdemokratie nach links retten kann. Indem sie zu dem zurückkehrt, was sie einst ausmachte: Daseinsvorsorge, Umverteilung, Arbeitnehmerrechte, Wohnungspolitik, Solidarität.

Hätte Corbyn gewonnen, hätte in den taumelnden Sozialdemokratien des Kontinents womöglich ein Sog nach links eingesetzt. Doch Fahrradkette: Nun wird, unabhängig vom Ausgang des bei Labour wohl unvermeidlichen Aufstands des Post-Blair-Establishments, die Niederlage des linken Hoffnungsträgers gegenteilig wirken. Sozialdemokratische Rechtsausleger, deren Prototyp eben Kahrs ist, werden sagen: Linkskurs führt zu Selbstverzwergung! Der Medientenor wird entsprechend sein.

Und es stimmt ja, dass der Verlust von rund 60 Mandaten ein »Erdrutsch« ist. Doch ist derselbe auch ein Sondereffekt: einer verzwickten Situation, die mit dem Brexit von einem Thema quer zu den Lagern bestimmt war. Den Rest besorgte das Mehrheitswahlrecht: Mit 32 Prozent erzielt Corbyn nun 203 Mandate, wo Ed Milliband 2015 mit zwei Prozent weniger Stimmen auf 30 Mandate mehr kam. 2010 errang Gordon Brown mit nur 29 Prozent sogar 258 Mandate - fast so viele wie Corbyn 2017 mit 40 Prozent. Bei seinem »historischen Sieg« von 2001, der die Ära der neoliberalen Sozialdemokratie einläutete, mobilisierte selbst Tony Blair kaum mehr als die 10,3 Millionen, die nun Corbyn wählten, besetzte aber mehr als doppelt so viele Sitze im Unterhaus.

Für Großbritannien ist das Ergebnis verheerend. Johnson kann loslegen mit seinem Katastrophenkapitalismus, über den sich viele noch wundern werden, die ihn gewählt haben. Und jene Selbstverzwergung könnte sich als List der Geschichte bewahrheiten: indem der John-Bull-Nationalismus, den Johnson weckte, in Klein-England aufwacht. Wer aber vom Kontinent aus den Rauch beiseite wedelt, sieht trotz des für Corbyn unlösbaren Brexit-Dilemmas einen Stimmenanteil, von dem Sozialdemokratien anderswo nicht mal mehr träumen. Die linke Selbst- ist eine Scheinverzwergung.

Nur ist es leider so, dass auf eine Nebelkerze tausend kleine Fächer kommen müssen, um halbwegs klare Sicht zu bewahren. Mit diesen muss sich nun bewaffnen, wer der Sozialdemokratie in Europa eine Zukunft wünscht. Sonst gewinnen die, die jetzt heimlich den Sekt köpfen - und noch jede ihrer eigenen »historischen Niederlagen« mit einem selbstbewussten »Weiter so« beantwortet haben.

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