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Stabil auch ohne Mehrheit

Rudolf Walther hält eine von der LINKEN angeführte Minderheitsregierung in Thüringen für die beste Lösung

  • Rudolf Walther
  • Lesedauer: 3 Min.

In parlamentarischen Demokratien gibt es weder ein Recht noch eine Pflicht zu regieren. So wie jeder frei gewählte Abgeordnete - im Prinzip - nur seinen Wählern und seinem Gewissen gegenüber verantwortlich ist, so sind Parteien bzw. Fraktionen frei, sich an Regierungen zu beteiligen oder als Opposition die Regierung zu kontrollieren.

In Thüringen liegen die Dinge etwas anders, denn hier ermöglicht die Stärke der im Landtag vertretenen Parteien keine Bildung einer Mehrheitsregierung, weil CDU und SPD zu große Verluste erlitten und Grüne und FDP nur knapp über die Fünf-Prozent-Hürde kamen. Selbst eine Viererkoalition aus CDU, SPD, Grünen und FDP würde die absolute Mehrheit von 46 Sitzen im Landtag nicht erreichen. Da die AfD für CDU und FDP (noch) nicht koalitionswürdig ist, ist auch eine Mitte-rechts-Koalition (noch) nicht möglich. Es bleibt also nur eine Minderheitsregierung oder die Herbeiführung von Neuwahlen. Letzteres ist erstens nicht ganz einfach und zweitens hat außer der AfD keine Partei ein Interesse.

Eine Minderheitsregierung muss sich, um ihre Vorhaben zu realisieren, im Parlament von Fall zu Fall eine Mehrheit suchen. Dieser Zwang hält Regierungen von überzogenen Projekten ebenso ab wie vom Durchregieren und vom Vielregieren. Diese Konstellation ist einer Demokratie allemal angemessener als das Regieren mit Mehrheiten, die verfassungswidrig mit Partei- bzw. Fraktionsdisziplin oder durch Einzelabreibungen oder Gewissenszwang Parlamentariern buchstäblich abgepresst werden.

Dass Regieren nur mit stabiler Mehrheit möglich sei, ist ein systemisch erzeugter Selbstzwang. »Alternativlos« ist dieser Zwang freilich nicht, weil Minderheitsregierungen, die sich ihre parlamentarische Mehrheit von Vorhaben zu Vorhaben zusammensuchen, durchaus möglich und verfassungsmäßig sind.

Politische Stabilität und Verantwortung allein daran zu messen, ob eine Regierung über eine dauerhafte Mehrheit im Parlament verfügt, ist genauso ein Aberglaube wie die »schwarze Null« im Staatshaushalt. Minderheitsregierungen werden nur Vorlagen ins Parlament einbringen, von denen sie annehmen, dass es im Prinzip möglich ist, dafür eine Mehrheit zu gewinnen. Das böte im Übrigen auch den Kollateralgewinn, dass Gesetzesvorlagen, die nur die bornierten Interessen einer Klientel dienen (zum Beispiel das Burkaverbot) oder nur dem Image und Prestige einer Partei helfen (beispielsweise der Leitkultur-Zauber), unter einer Minderheitsregierung gar nicht ins Parlament kämen.

Abgeordnete und Fraktionen müssen sich im Gegenzug bei jeder Vorlage entscheiden, ob diese ihrer politischen Programmatik und ihrer Interessenlage nahe genug kommen, um ihr zuzustimmen oder ob sie die Vorlage scheitern lassen und damit Neuwahlen riskieren.

Die Erfahrungen mit Minderheitsregierungen in Dänemark (28 Minderheitsregierungen seit 1945) und Schweden (seit 1970 nur acht Jahre ohne Minderheitsregierung) wiegen die unbestreitbaren Nachteile häufiger Regierungswechsel gegenüber dem Dauerleerlauf von heterogenen Koalitionen von regier- und ministerwilligen Politikern auf. Der Versuch Andrea Ypsilantis, 2008 in Hessen eine von der Linkspartei tolerierte Minderheitsregierung zu bilden, scheiterte daran, dass drei SPD-Abgeordnete kurz vor der Abstimmung ihr »Gewissen« entdeckten.

Bündnisse wie Viererkoalitionen, wenn sie rechnerisch überhaupt mehrheitsfähig sind, beruhen auf einem Murks aus Formelkompromissen, Minimalkonsensen und der fixen Idee, dass man nur eine stabile numerische Mehrheit im Parlament brauche, um zu regieren. Politisches Handeln auf der Basis minimalster gemeinsamer Interessen garantiert mit Sicherheit nur eines: Stagnation mit einem Minimum an politischen Lösungen und einem Maximum an Scheinlösungen und Verschiebungen politischer Probleme auf lange Bänke.

Die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer ist der Person gewordene Aberglaube, der Politik mit »Regieren« und »stabiler Mehrheit« gleichsetzt und alles, was darüber hinaus reicht, als »ein irgendwie überphilosophisches Modernisierungsprojekt« verteufelt. Der amtierende Ministerpräsident in Thüringen, Bodo Ramelow (LINKE), hat in der vergangenen Legislaturperiode gezeigt, wie Politik in einer Koalition mit nur einer Stimme Mehrheit geht. Ihm ist auch zuzutrauen, dass er es versteht, ganz ohne koalitionäre Formelkompromisse Politik zu machen.

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