Eine Flucht, die Japans Justiz blamiert

Der wegen Veruntreuung und Steuerhinterziehung angeklagte Ex-Chef von Nissan Carlos Ghosn floh nach Libanon

  • Felix Lill
  • Lesedauer: 4 Min.

Kein Justizflüchtling sei er, behauptete der einstige Topmanager nach seiner gelungenen Flucht. Vielmehr sei er ungerechter Behandlung entkommen und politischer Verfolgung entwichen. Carlos Ghosn, vor nicht allzu langer Zeit einer der mächtigsten Wirtschaftsbosse der Welt, initiierte sich einmal mehr als Opfer eines Plots gegen ihn. Nach Japan, wo der Brasilianer mit libanesischen und französischen Pässen in seiner Zeit als Chef von Nissan, Mitsubishi und Renault viel Zeit verbrachte, wird er freiwillig wohl nicht mehr zurückkehren. Dafür wolle er die Welt über das in seiner Sicht verlogene Justizsystem Japans informieren.

Selten waren Wirtschaftsjustizfälle so spektakulär wie dieser. Über den Jahreswechsel entfloh der 65-jährige Ghosn, der seit Monaten in Japan eine Haftstrafe auf Bewährung verbüßen sollte, dem japanischen Rechtssystem gen Libanon. In Japan werden ihm Steuerhinterziehung und Veruntreuung in Höhe von umgerechnet rund 38,8 Millionen Euro vorgeworfen. Nach seiner ersten Festnahme im November 2018 wurde Ghosn über 108 Tage in Haft gehalten, ohne dass er Zugang zu einem Anwalt hatte. Zweimal lehnten die Gerichte ein Ansuchen auf Freilassung gegen Kaution mit dem Argument der Fluchtgefahr ab. Im März durfte er dann doch auf freien Fuß gegen eine Kaution von 7,9 Millionen Euro.

Nun soll Ghosn in einem Instrumentenkasten, den er von einer Musikband geliehen hatte, zu einem Privatjet geschmuggelt worden sein, in dem er dann offenbar außer Landes geschafft wurde. Von all dem hatte nicht nur die japanische Justiz keine Ahnung, sondern auch Ghosns Verteidiger in Japan. Sein Anwalt Junichiro Hironaka sagte: »Ich weiß nicht einmal, wie wir ihn jetzt kontaktieren können. Ich weiß nicht, wie es weitergeht.« Libanon, wo sich Ghosn nun aufhält und wo er bereits den Präsidenten getroffen hat, hat kein Auslieferungsabkommen mit Japan. Auch Frankreich ließ schon verlauten, dass Ghosn dort wohl in Sicherheit wäre. Unterdessen wurden in der Türkei mutmaßliche Helfer der Fluchtaktion festgenommen. Japan hat derweil bei der internationalen Polizeibehörde Interpol einen Haftbefehl gegen Ghosn erwirkt.

Für die japanische Justiz wird die Sache zur Blamage. Dabei galt die Festnahme Ghosns zunächst als Coup der Rechtsschützer. Über viele Jahre war der Manager in Japan ein Star der Businesswelt, nachdem er Anfang der 2000er Jahre dort den maroden Autobauer Nissan wirtschaftlich auf die Erfolgsstrecke gebracht hatte. Allerdings sorgte er auch für Empörung, weil er sich noch deutlich höhere Gehälter ausbezahlen ließ als die Bosse der Konkurrenz - was im etwas weniger steil vergütenden Japan besonders auffiel. Feinde machte sich Ghosn dann wohl endgültig, als er die Autobauer Renault und Nissan, deren beider Chef er war, fusionieren wollte. Da sich die japanische Seite bei dem angedachten Deal benachteiligt fühlte, regte sich Widerstand.

So vermuten böse Zungen, von denen Carlos Ghosn selbst wohl eine ist, dass die Verhaftung des Ex-Managers auf einen Verrat seiner Mitarbeiter zurückzuführen ist. Ghosn, der alle Anschuldigungen von sich weist, betont seither die Diskriminierungen im japanischen Justizsystem und die faktische Vorverurteilung von Angeklagten. Schließlich wird, sobald die Staatsanwaltschaft ihre Tätigkeit aufnimmt, tatsächlich fast jeder Verdächtigte auch für schuldig befunden. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisieren seit langem die Praxis, Verdächtigte für lange Zeit ohne Zugang zu einem Anwalt zu verhören. Dies führe oft zu erzwungenen Geständnissen.

Allerdings befand sich Japans Justiz zuletzt in einem Wandel. Die überraschende Freilassung Carlos Ghosns gegen Kaution war nur einer von zuletzt mehreren Fällen, in denen die Gerichte teilweise im Sinne der Angeklagten entschieden. Lag der Anteil der Fälle, in denen einem Kautionsgesuch stattgegeben wurde, im Jahr 2007 laut einer Anwaltsvereinigung bei nur 15 Prozent, so war er bis 2017 schon auf 32 Prozent gestiegen. Dies liegt einerseits daran, dass die Zahl von Anwälten, die schwierige Verteidigungsfälle annehmen, gestiegen ist, andererseits aber auch an einer zusehends offenen Einstellung seitens der Richter. Fraglich ist nun, ob dieser Trend durch den Fall Ghosn aufgehalten wird. Schließlich war dieser auf freien Fuß gelassen worden, weil seine Verteidiger überzeugend argumentiert hatten, es bestünde keine Fluchtgefahr.

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