»Verlier niemals deinen Stolz«

Christian Barons »Ein Mann seiner Klasse« erlaubt keine einfachen Urteile.

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.
Christian Baron, damals Redakteur beim "neuen deutschland".
Christian Baron, damals Redakteur beim "neuen deutschland".

Vergebung am Sterbebett: »Er sprach den Vater frei von jeder Schuld an den Wunden, die sich in der Kinderseele eingebrannt hatten.« So friedvoll beginnt der Roman. Aber so geht er nicht weiter. Denn der Ich-Erzähler war es nicht, der dem Vater die Hand hielt bei dessen letzten Atemzügen auf der Intensivstation und der in der Sprache der Trauer, der Wut, der Erleichterung mit ihm zu schweigender Übereinkunft fand: »Freispruch in allen Anklagepunkten«.

Dafür braucht es mehr als ein paar Sätze, mehr vielleicht als ein ganzes Buch. Verstehen: Wenn der Autor auch nach Erklärungen sucht, um an den Vater in Liebe zu denken, es bleibt ein Rest, der nur mit Auflehnung zu bewältigen ist. Der Roman »Ein Mann seiner Klasse« wäre nicht gelungen, wenn der Ich-Erzähler selbst die große Vater-Sohn-Szene vorgeführt hätte. Stattdessen war es sein Bruder.

Sprachlich genau und kraftvoll wird Erinnertes vor Augen geführt. Wie es wirklich war, es ist Christian Barons Seelenarbeit gewesen, sich das immer wieder zu vergegenwärtigen. Ohne Maske tritt er uns gegenüber und fordert solche Offenheit auch beim Lesen heraus.

Schon auf der zweiten Seite fängt es an, dass wir zusammen mit den beiden Brüdern - neun und acht - angstvoll warten, was geschieht. »Unsere Eltern schliefen direkt neben unserem Zimmer. Darum drang es dumpf bis zu uns, wenn Mamas Kopf gegen die Wand donnerte. Niemals verloren wir darüber ein Wort. Wir spürten den Schmerz, wir betrachteten unsere zitternden Hände, wir warfen einander Blicke zu. Das Flehen und Flennen wurde uns mit der Zeit zur Normalität.« Szenen häuslicher Gewalt - es wird im Roman noch viele davon geben. Freilich auch solche, in denen der Vater die Kinder »meine Gutsten« nennt. Er schlug sie, und sie sehnten sich nach seiner Liebe. Aus diesem emotionalen Dilemma bezieht der Roman seine Spannung.

Eine Erinnerung aus Kinderzeiten flammte in mir auf. Vor unserer Nachbarwohnung standen eines Tages mehrere luftbereifte Roller, wie ich mir selber einen vergeblich wünschte. »Die Siegels« hätten im Lotto gewonnen, erklärte meine Mutter, und nichts Besseres zu tun gehabt, als gleich das ganze Geld »auf den Kopf zu hauen«. Ob es in dieser kinderreichen Familie auch Schläge gab, ich weiß es nicht, aber ich begreife inzwischen, warum zwischen uns so eine Kluft bestand. Auch wir lebten von schmalem Geld, aber die Eltern waren sicher, dass durch Fleiß und Sparen alles besser würde. Meinen Vater sah ich immer nur lernend. Vom Hilfsarbeiter hat er es bis zum Ingenieur für Sprengtechnik gebracht. Da war den Eltern durch ihre Vorfahren wohl eine Zuversicht mitgegeben, die den Nachbarn fehlte.

Die schlugen sich durch und nahmen aus dem Jetzt, was möglich war. So wie der Vater in diesem Roman. Stolz auf seine Kraft als Möbelpacker, hätte er auch nach Karl-Marx-Stadt gepasst. Aber er hätte sich nicht so »gehen lassen« dürfen wie in Kaiserslautern. Obwohl es in der DDR genug Alkoholiker gab, wurde das nicht als Privatangelegenheit angesehen.

Auf dem Einband des Buches ein rührend schönes Bild der 22-jährigen Mutter mit dem kleinen Christian. Man muss sich allerdings vorstellen, dass das Foto in einer total verrauchten Wohnung entstanden ist. Die Mutter, die so begabt in der Schule war, die Gedichte schrieb und mit 32 Jahren an Krebs starb, nachdem sie vier Kinder zur Welt gebracht hatte, sie duckte sich wie Millionen von Frauen auf der ganzen Welt, die sich ihren Männern unterordneten, so lange es nur ging. Irgendwann wird der Vater vor die Tür gesetzt - von Tante Juli, die, selbst ganz jung noch, nach dem Tod ihrer Schwester zusätzlich zu ihrem eigenen Baby deren vier Kinder zu sich nimmt und später damit hadert, dass der Ich-Erzähler - Christian Baron eben - so radikal seine Herkunft hinter sich lässt, indem er lernt, studiert. Es war Neid, und es war Trauer. »Für sie wurde ich das Andere, das ihr jeden Tag vorführte, dass es kein Naturgesetz war, für immer in diesem Kreislauf der Armut zu bleiben.«

Dem Üblichen entsprach es eben doch, dass mehrere Gymnasien den Jungen trotz bester Zeugnisse und Empfehlungen ablehnten, weil seine Herkunft gegen ihn sprach. Auf einer Gesamtschule machte er dann das Abitur. In der DDR, wo die althergebrachte Ordnung von Arm und Reich nicht mehr gelten sollte, wäre seine Herkunft ein Gütesiegel gewesen, er hätte besondere Förderung erfahren. Eher hätte der Sohn des Arztes oder des Pastors über die Ungerechtigkeit einer Zurücksetzung klagen müssen. Die Staatsfunktionäre, so abgehoben ihre Stellung war, hatten ihren Hintergrund im Arbeitermilieu. Entsprechend waren die Vorstellungen von Gerechtigkeit.

Die Gesellschaft, in der ich mich inzwischen befinde, hat eine Klassenstruktur von Oben, Mitte, Unten, die sich reproduziert, als sei dies selbstverständlich. Über diese Einteilung hat Christian Baron 2016 das Sachbuch »Proleten, Pöbel, Parasiten« geschrieben, dessen Lektüre mich von einer Verdrängung befreite, was den Begriff »Unterschicht« betraf. Aus der ökonomischen Lage und der sozialen Stellung ergeben sich viele kulturelle Unterschiede. Nun verweist sein Romantitel »Ein Mann seiner Klasse« auf eine sozialpsychologische Ebene, die man sich zum ersten Text hinzudenken wird.

Das Leben des Vaters ist ein Sichdurchbeißen ohne Aussicht auf mehr. Wie er als Möbelpacker einen Schreibtisch alleine schultert, von seinem Sohn wird er dafür bewundert. Aber bei aller Schufterei bleibt er sozial abgehängt. Sein Vater hatte ihn auch schon geschlagen, und seine Kollegen trinken wie er, damit sich ein Gefühl von Feierabend einstellt. »Verlier niemals deinen Stolz«, sagt er zum Sohn. Sich nicht den gängigen Normen anzupassen, ist die einzige Widerstandsleistung, die ihm bleibt. Auch wenn sie sich gegen Schwächere richtet - Frauen und Kinder -, für Momente lässt es ihn Stärke fühlen.

Wer nicht in seiner Lage steckt, sagt man sich, soll nicht über ihn urteilen dürfen. Das könnte ich als letzten Satz stehen lassen, aber etwas in mir wehrt sich dagegen. Ich frage mich, ob es die Stimme meiner Mutter ist. Ich verstehe alles, höre ich sie sage; das gibt es, aber das darf es nicht geben. Wobei sie ihrer Anklage gegen den Mann auf jeden Fall hinzugefügt hätte, dass es ein gesellschaftlicher Skandal ist, wenn Menschen in solcher Hoffnungslosigkeit leben müssen und man einer Familie mit vier Kindern (wir sind auch vier gewesen) sogar noch den Strom abstellen darf.

Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse, Roman. Claassen. 282 S., geb., 20 €. Lesung am 17.2., Roter Salon, Volksbühne, Berlin, 20 Uhr, und 4.3., 18 Uhr, im nd-Literatursalon, Münzenbergsaal, Franz-Mehring-Platz 1, Berlin.

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