Wenn die Bühnen nun leer sind

Was macht ein Theaterkritiker ohne Theater, in Zeiten der Seuche?

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 4 Min.

Was macht eigentlich ein Theaterkritiker, wenn die Bühnen die nächsten Wochen wegen Seuchengefahr geschlossen sein werden? Zunächst das Übliche. Er sitzt und denkt. Was soll er sonst auch tun? Auch ein Impfstoff wird nicht schneller entwickelt, würde er damit aufhören. Und für einen Berufswechsel ist es wirklich zu spät. So denkt er, dass es nun offensichtlich ist, dass ein nach Kriterien des Marktes organisiertes Gesundheitswesen schlecht tut, was es soll. Und ob nicht eine sofortige, unverzügliche und freilich entschädigungslose Enteignung der Pharma- und Gesundheitsindustrie anstünde. Dann denkt er, ob man nicht Obdachlose und Flüchtlinge in den nun leeren Hotels einquartieren könnte, um sie nicht in Massenunterkünften unnötigen Risiken auszusetzen.

Und dann denkt er, was wohl der Rest vom Kulturprekariat nun macht - all die Künstler und Selbständigen, die mehr Angst vor der Privatinsolvenz als der Seuche haben? Wird auch denen geholfen werden - obwohl sie nicht »systemrelevant« sind? Also all jenen, die marxistisch gesprochen ohne eigene Produktionsmacht an der Zirkulation hängen - abhängig von dem bisschen, was noch abfällt für die »Kulturhuren« und anderen Huren, die sich in den modernen Tempeln des Vergnügens tummeln. Und dann denkt der Theaterkritiker noch, dass er seit seiner Schulzeit eigentlich nichts anderes als Krisen erlebt hat - Finanzkrise, Immobilienkrise, geopolitische Krise, Demokratiekrise, ökologische Krise, kurz: eine systemische Verwertungskrise des Kapitalismus und nun auch noch Corona-Krise - und dass das Ergebnis aller Krisen war, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer wurden. Und dann denkt er, ob man sich angesichts dessen nicht besser selber helfen sollte und vorerst kollektiv die Miete einbehält. Das alles denkt er.

Aber der Theaterkritiker denkt natürlich auch ans Theater. Wenn die Bühnen nun leer sind, könnten beispielsweise alle darüber nachdenken, warum man eigentlich Theater macht. Zufällig - und wirklich zufällig! - hat der Theaterkritiker zu dem Thema gerade ein Büchlein veröffentlicht (Anmerkung der Redaktion: »Warum Theater. Krise und Erneuerung« bei Matthes & Seitz). Auch wenn er fürchtet, dass niemand das lesen wird, weil alle im Seuchenwahn sind. Und dann denkt er an Frank Castorfs Inszenierung »Galileo Galilei. Das Theater und die Pest«. Die hatte im Januar vergangenen Jahres Premiere und verband Bertolt Brechts berühmtes Stück über den Renaissanceforscher mit Texten von Antonin Artaud über die Pest. Und erstaunlicherweise hat es einiges der jetzigen Situation vorweggenommen. So zeigte der damals 86-jährige Jürgen Holtz als Galilei seinen nackten und verletzbaren Körper. Angewiesen auf die Hilfe anderer ist es ein Eingeständnis eigener Schwäche und Anfälligkeit.

Der Begriff der Gesellschaft wird hinfällig, wenn sie nicht darauf ausgerichtet wird, auch den Schwachen und Hilfebedürftigen ein gutes Leben zu ermöglichen. Die sozialdarwinistische Konkurrenzgesellschaft läuft auf das Gegenteil hinaus, jeder ist sich selbst am nächsten.

Und dann bricht in Brechts Stück die Pest herein, es herrscht Ausgangssperre, ganze Viertel werden abgesperrt, Grenzen geschlossen. Es gibt keine Milch mehr zu kaufen, Galilei kann nicht selbst aus dem Haus und seine Haushälterin ist auf der Straße zusammengebrochen. »Jeder denkt nur noch an die Pest«, sagt eine alte Frau und Galilei antwortet: »Wie ihnen das gleich sieht! Das ist ihr ganzes Regierungssystem. Sie hauen uns ab wie den kranken Ast eines Feigenbaums, der keine Frucht mehr bringen kann.« Besser kann man die Sorgen der »Nicht-Systemrelevanten« wohl kaum auf den Punkt bringen.

Während Artaud die Pest als eine existenzielle Krise feiert, in der die Menschen angesichts der Gefahr des Todes wieder zusammenfinden, sieht Brecht mit analytischer Schärfe, dass es in Zeiten der Seuche kein unterschiedsloses »Wir« gibt, sondern noch immer die grausame Klassengesellschaft. Da denkt der Theaterkritiker, dass Brecht unsere Welt - in der das reichste Land einfach die Grenzen schließt - besser beschreibt als Artaud. Und auch die Rede von der Solidarität wird sich noch beweisen müssen, wenn es um Umverteilung geht. Dass Brecht der Sache näher ist als Artaud, dachte der Theaterkritiker aber schon vor einem Jahr. Selten ist das Theater der Zeit so voraus.

Um aber nochmal auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Was macht denn ein Theaterkritiker nun? Er könnte nun endlich Stücke ohne die lästigen Aufführungen besprechen, meinte der Vater einer Freundin. Warum eigentlich nicht?

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