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  • Kurierfahrer in Berlin

Rider aus Leidenschaft

Ein Kurierfahrer siegt über Deliveroo und gründet nun sein eigenes Lieferkollektiv. Von Jörg Meyer

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein Freund hatte Christophe Chatrenet irgendwann im Sommer vor fünf Jahren von der neuen Arbeit erzählt: Der Essenslieferdienst Deliveroo war frisch auf dem französischen Markt und suchte in Paris händeringend Fahrer*innen, auch »Rider« genannt. Das klang für Chatrenet nach einer guten Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen: Rad fahren, gutes Geld, flexible Arbeitszeiten. Er stellte sich bei Deliveroo vor und begann kurz darauf, für das junge Unternehmen per Fahrrad Essen auszuliefern. Um Steuern, Miete und Lebenshaltungskosten in Paris zu bezahlen, hat das Einkommen auf Dauer nicht gereicht. Dazu kam der Wunsch nach einem Tapetenwechsel. Chatrenet suchte sich eine Wohnung in Berlin, bekam aus Paris ein Empfehlungsschreiben und zog nach Deutschland. Bei Deliveroo erwartete man ihn schon, und er konnte mit der gewohnten Arbeit am neuen Ort beginnen. Eine gute Art, die Stadt kennenzulernen.

Anfangs brauchte Chatrenet die Landessprache nicht unbedingt. Fast alles läuft über eine App. Das Prinzip ist überall das Gleiche: Menschen bestellen ihr Essen vom gewünschten Restaurant, bezahlen über die App, das Essen wird geliefert, fertig. Bezahlt wird pro Tour. Deliveroo ist mit seinem Geschäftsmodell Teil der sogenannten Plattformökonomie: Meist Freiberufler oder Selbstständige erledigen kurzfristig Aufträge, die über eine Onlineplattform vermittelt werden. Für Studierende, die einen Steuerfreibetrag von 784 Euro monatlich haben, ist das oft eine willkommene Verdienstmöglichkeit. Für hauptberuflich Tätige sind es in erster Linie prekäre Jobs. Und die Unternehmen sparen sich die Sozialbeiträge.

Die App kontrolliert alles

Zu Beginn ihrer Schicht melden sich die Rider in der vom Unternehmen zur Verfügung gestellten App an. Dann trudeln die Bestellungen ein, die Fahrer*innen holen das Essen beim Restaurant und bringen es zu den Kund*innen. Damit die Wege kurz sind und das Essen frisch, unterteilen die Lieferdienste die Stadt in Zonen, die sich an Wohngebieten orientieren. Christophe Chatrenets Zone war die »TBN«: Tiergarten, Bülowstraße, Nollendorfplatz. Er fährt gerne in Schöneberg und Charlottenburg. Das ist weniger gefährlich und stressig als die Straßen von Neukölln oder Friedrichshain-Kreuzberg, sagt er.

Bei Deliveroo in Berlin gab es anfangs noch selbstständige und angestellte Fahrer*innen. Das änderte sich Ende 2017, als plötzlich alle selbstständig wurden. »Deliveroo hat damit Geld gespart, zulasten der Beschäftigten, aber auch zulasten der Solidargemeinschaft«, sagt der Fachanwalt für Arbeitsrecht, Klaus Stähle. Um den Fahrer*innen den Übergang in die Selbstständigkeit schmackhaft zu machen, erhöhte Deliveroo die Bezahlung von 4,75 auf fünf Euro pro Tour. Dazu kamen verschiedene Boni für die Zahl der abgelieferten Essen.

Deliveroo gab den Ridern nur die App - und die Möglichkeit, sich wöchentlich in die Schichtpläne einzutragen. Das System funktionierte hierarchisch: Wer in der App die beste Statistik - etwa bei Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit - hatte, durfte zuerst die Schichten wählen. Die anderen nahmen, was übrig war. Fahrräder, Kleidung und Ersatzteile lagen in der Verantwortung der Rider. »Einmal ist ein Betrunkener an einem Samstagabend auf mein Fahrrad gefallen«, erzählt Chatrenet. Seine Schicht am Sonntag konnte er daraufhin nicht antreten. Schlecht für die Statistik, denn der Algorithmus merkt sich alles. Es ist ihm egal, was der Grund für die Absage ist.

Chatrenet hat hauptberuflich bei Deliveroo gearbeitet, fünf Tage die Woche, meist von 17 bis 22 oder 23 Uhr. An einem schlechten Tag waren es 30 bis 50 Kilometer, an einem normalen rund 75 Kilometer. Ab 80 bis 100 Kilometer ist es ein richtig guter Tag, da kommt Geld rein. Beine und Po fangen schon vorher an weh zu tun, aber wenn man über einen gewissen Grad von Schmerz und Erschöpfung hinaus ist, fährt man immer weiter, sagt der Endzwanziger.

Das Ende kam plötzlich

Das Ende kam plötzlich. Chatrenet war gerade im Urlaub, als er in einer Messenger-Gruppe las, dass Deliveroo Deutschland verlässt. Im E-Mail-Postfach lag das Schreiben vom Unternehmen. An einem Montag kündigte Deliveroo an, zum Donnerstag die Geschäfte in Deutschland einzustellen. Im Rahmenvertrag stand, dass die Rider gehen können, wann sie wollen, Für das Unternehmen aber galt eine 15-tägige Kündigungsfrist. Deliveroo bot eine Abfindung auf Basis des Durchschnittseinkommens der letzten zwölf Wochen an.

»Ein schlechtes Angebot«, sagt Anwalt Klaus Stähle. Chatrenet und drei weitere Rider, die sich in der anarchosyndikalistischen Gewerkschaf Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) organisierten, entschieden sich daher, mit Unterstützung ihrer Gewerkschaft für mehr Geld zu streiten. Es ging dabei sowohl um die Abfindung als auch um ein Feststellungsverfahren ihres Status, also die gerichtliche Prüfung, ob die Rider nun eigentlich Selbstständige oder Angestellte sind.

Diese Prüfung kann für eine Firma schmerzhaft sein: Würde festgestellt, dass die Fahrer*innen angestellt waren, wären Nachzahlungen an Krankenkasse, Unfallversicherung, Pflege- und Rentenversicherung fällig. »Alle Verfahren haben wir in einer Güteverhandlung mit einem Vergleich abgeschlossen, weil Deliveroo die Sache vom Tisch haben wollte«, sagt Rechtsanwalt Klaus Stähle. Das Unternehmen habe kein Interesse gehabt, es auf eine Entscheidung vor dem Arbeitsgericht ankommen zu lassen. Die vier Fahrer haben sich letztlich alle dafür entschieden, die Abfindungen zu nehmen und die Statusfeststellung nicht weiter zu verfolgen. »Das war für sie letztlich lukrativer«, so Stähle. Ein Rider, den die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) vertritt, zieht nach nd-Informationen unterdessen in die zweite Instanz vor das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg.

Neues Kollektiv, neues Glück

Die Ausweitung der Plattformökonomie stellt die Gewerkschaften schon lange vor Probleme. »Besonders in Geschäftsmodellen, die auf Vereinzelung und Konkurrenz unter den Beschäftigten aufbauen, ist die gewerkschaftliche Organisierung schwer«, sagt FAU-Gewerkschaftssekretär Johnny Hellqvist. »Wenn Beschäftigte sich so gut wie nie treffen, sich nicht austauschen können, ist es schwer, ihre gemeinsamen Interessen erst einmal zu finden und dann mit der Gewerkschaft auch durchzusetzen.« Am Beispiel Deliveroo sehe man aber, dass Beschäftigte sich auch in diesem Bereich kollektiv wehren können. Christophe Chatrenet hat statt der anfangs angebotenen 500 Euro letztlich 8000 Euro von dem Konzern bekommen.

Er wollte nicht mit dem Job aufhören, sagt Chatrenet heute. Die Arbeit bei Deliveroo habe ihm Spaß gemacht. Zuletzt arbeitete er als Kurierfahrer und transportierte Dokumente und Briefe für Geschäftskunden. Doch dabei hat er den persönlichen Kontakt zu den Kund*innen vermisst, wie er ihn hatte, als er ihnen noch das Essen nach Hause lieferte. Derzeit baut Chatrenet mit drei anderen Ex-Deliveroo-Ridern ein Lieferkollektiv auf, die »foodfairies«. Theoretisch könnte es bald losgehen, doch vorher steht noch der Papierkram, die behördliche Anmeldung des Unternehmens, an. Die Corona-Pandemie macht auch ihnen einen Strich durch die Rechnung. Die Website foodfairies.de gibt es schon, darauf ist bisher aber nur die E-Mail-Adresse zu sehen. Christophe Chatrenet wartet nur darauf, dass das neue Kollektiv endlich die Arbeit aufnimmt. Er ist ein Rider aus Leidenschaft.

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