Systemrelevante Löhne fehlen noch

Der Bundestag kann sich trotz seltener Einigkeit nicht auf das Nächstliegende einigen: Hilfe zuerst an Bedürftigste

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 5 Min.

Einsam sitzt Bundestagspräident Wolfgang Schäuble im Präsidium, nur ein Schriftführer hinter ihm. Als dieser sich an ihn wendet und sich dafür neben ihn hockt, ist dies Schäuble offenbar unangenehm. Schnell ist der Dialog beendet. Auch dem Bundestag sieht man die Coronakrise an. Die Abgeordneten halten Abstand, lassen Plätze frei und sprechen in den Pausen in einiger Distanz miteinander. Vor allem ungewöhnlich ist: Die Beschlüsse zur Bekämpfung der Corona-Krisenfolgen gehen an diesem Mittwoch in rasender Geschwindigkeit vonstatten. Erst recht gemessen an ihrer Tragweite.

Die zeigt sich an der gewaltigen Summe, über die der Bundestag zu befinden hat. 1400 Milliarden Euro stelle der Bund an Zahlungen, Krediten, Gewährleistungen und Garantien bereit, lobte Alexander Dobrindt (CSU). Nicht alles Geld wird sofort fließen, aber es ist Geld, das verfügbar sein muss. Ob richtig eingesetztes Geld, zu viel oder zu wenig - letztlich sind das Fragen, die wohl erst in einigen Monaten beantwortet werden können. Es gibt kein Beispiel in der Geschichte der Bundesrepublik, nach dem man sich jetzt richten könnte, sagt Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), der als Vizekanzler heute die Bundeskanzlerin vertritt, weil diese sich in Quarantäne zu Hause befindet. »Wir wissen nicht, ob wir jetzt alles richtig entscheiden«, meint auch der Fraktionschef der Union, Ralph Brinkhaus (CDU). Und Katrin Göring-Eckardt von den Grünen ist sich sogar sicher: »Wir werden Fehler machen.«.

Das Hilfepaket

Der Bundestag beschloss einen »Wirtschaftsstabilisierungsfonds«, über dem Firmen mit Kapital gestärkt werden können. Der Staat soll sich notfalls wie in der Finanzkrise vor mehr als zehn Jahren auch an Unternehmen beteiligen können. Der Fonds umfasst 600 Milliarden Euro. Unternehmen sollen mit Kapital und Garantien gestärkt werden können. Mögliche Staatsbeteiligungen sollen wieder privatisiert werden, wenn die Krise vorbei ist.

Im Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister wird ein erleichterter Zugang zu den Leistungen der Grundsicherung festgelegt.

Regelungen bei den Hinzuverdienstmöglichkeiten während des Bezugs von Kurzarbeitergeld sollen Einkommenseinbußen ausgleichen helfen.

Ein besonderer Schutz wurde für Schuldner und Mieter beschlossen. Schuldner, die wegen der Corona-Pandemie ihre vertraglichen Pflichten nicht erfüllen können, erhalten die Möglichkeit, ihre Leistung einstweilen zu verweigern oder einzustellen. Für Verbraucher und Kleinstunternehmen soll so gewährleistet werden, dass sie nicht von Leistungen mit Strom, Gas und Telekommunikation abgeschnitten werden.

Im Bereich des Insolvenzrechts soll die Antragspflicht bis zum 30. September 2020 ausgesetzt werden, sofern die Insolvenz wegen der Coronakrise droht. nd

Auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier vermutet, vielleicht werde man einiges korrigieren müssen von den heutigen Maßnahmen. Aber seine Zuversicht kennt keine Grenzen: Deutschland werde »stärker aus der Krise herauskommen, als wir in diese Krise hineingegangen sind«. Kleinverdiener, Soloselbstständige oder Empfänger von Sozialleistungen wären schon auf ein Wunder angewiesen, wenn Altmaier recht behalten wollte. Wenn kostenloses Mittagessen für Kinder in der Schule oder Kita jetzt wegfällt, kann das für manche Eltern ein großes Problem bedeuten, weil sie die Kosten nun aus dem Familienbudget bestreiten müssen. Eine vorübergehende Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes, die die Grünen wie auch die Linke vorgeschlagen hatten, ist in den Gesetzen nicht enthalten.

Dennoch herrscht eine ungewohnte Friedfertigkeit im Hohen Haus. Die Opposition ist bereit, dem Regierungsprogramm gegen die Coronakrise ihre Zustimmung zu geben. Die Vertreter der Regierungsfraktionen danken der Opposition feierlich, dass diese sich dem Regierungsprogramm nicht verweigert. In Rekordzeit und gegen alle üblichen parlamentarischen Regularien wird dieses am Mittwoch, an einem einzigen Tag, vom Bundestag beschlossen. Vorausgegangen sind Gespräche der Koalition mit den Fraktionen, über deren konstruktiven Verlauf sich alle Beteiligten so erstaunt wie erfreut zeigen. So seien noch Hilfen für soziale Träger eingebaut worden, freut sich Göring-Eckardt. Nach der ersten Lesung am Vormittag gehen die Gesetzentwürfe zur Beratung in die zuständigen Ausschüsse, am Nachmittag folgen die zweite und dritte Lesung sowie die Verabschiedung aller Gesetze. Auch der Bundesrat berät bereits erstmals, um die Gesetze am Freitag beschließen zu können.

Sieben Gesetze sind es insgesamt, in denen die Koalition die drei Schwerpunkte juristisch absichert, die Scholz den Abgeordneten in seiner Ansprache am Vormittag erläutert hat. Erstens die Gesundheitsversorgung der von Corona betroffenen Menschen sowie die Sicherung der notwendigen Bedingungen für die im Gesundheitswesen Beschäftigten. Zweitens gelte es den Lebensunterhalt der Bürger zu sichern, die von der Krise betroffen sind. Dabei soll der Verlust der Wohnung etwa durch Mietschulden ebenso verhindert werden, wie es um einen gewissen Ausgleich von Einkommensverlusten geht. Scholz verweist auf die Möglichkeit der Grundsicherung, zu der man in der kommenden Zeit erleichterten Zugang erhält - unter anderem durch den Verzicht auf sonst teils schikanös gehandhabte Prinzipien wie Vermittlungsvorrang, Vermögensprüfung oder Prüfung einer »Angemessenheit« der Wohnung. Auch einen erleichterten Zugang zum Familienzuschlag werde es geben, kündigt Scholz an. Drittens sollen die Wirtschaft stabilisiert und Arbeitsplätze erhalten werden.

In einem Nachtragshaushalt beschließt das Parlament eine Nettokreditaufnahme in Höhe von 156 Milliarden Euro. Sogar die FDP stimmt zu, denn die Bundesregierung macht in ihrem Antrag geltend, dass eine »außergewöhnliche Notsituation« im Sinne des Grundgesetzes vorliege. Olaf Scholz, der unerbittliche Verfechter der Schwarzen Null, bittet den Bundestag ausdrücklich, der Neuverschuldung zuzustimmen.

Das tut sie - FDP und AfD mit der Einschränkung, dass beide Fraktionen regelmäßige Prüfung und schnellstmögliche Rückkehr in den »Normalzustand« verlangen. Amira Mohamed Ali, Fraktionsvorsitzende der Linken, fügt in ihrer Rede an, dass ihre Partei die Schuldenbremse schon immer als unzulässige Beschränkung staatlicher Handlungsfähigkeit abgelehnt hat. Darüber hinaus hat sie Forderungen über die jetzigen Pläne hinaus. Es fehlten wichtige Regelungen, sagt sie. So gelte es den Menschen in den »systemrelevanten« Berufen, die jetzt unter großem Einsatz das Leben am Laufen halten, mehr als warme Dankesworte zu spenden. Vielmehr sollte es einen sofortigen Lohnzuschuss in Höhe von 500 Euro geben. Das Kurzarbeitergeld solle von 60 auf 90 Prozent des Lohns erhöht werden und eine Lohnfortzahlung für Eltern solle gelten, die von Kita- und Schulschließungen betroffen sind. Kleine Renten und der Hartz-IV-Regelsatz sollte nach dem Willen der Linken um 200 Euro pro Monat aufgestockt werden. Das Gesetz sieht nun lediglich vor, die Leistungen in einem »vereinfachten Verfahren schnell und unbürokratisch zugänglich« zu machen, »um die Betroffenen zeitnah unterstützen zu können«.

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