Warten auf den Ansturm

Die Notärztin Anna Doblander hat für ihren Ort in Tirol alle Corona-Vorbereitungen getroffen - wird das reichen?

  • Stefan Schocher, Wien
  • Lesedauer: 7 Min.

Es war eine Annahme. Das Szenario eines Erdbebens irgendwo in der Welt. In Teams sollten die Auszubildenden die Lage erkunden, Dringlichkeiten abschätzen, in verschiedenen Stresssituationen angemessen reagieren. Es galt einen Platz für ein Flüchtlingslager ausfindig zu machen, die medizinische Versorgung einzuschätzen, Checkpoints zu passieren, das Verhalten in Minenfeldern zu üben.

Das Szenario spielte sich in Eisenerz ab, in der Steiermark. Im Oktober. Ein verfallender Industrieort in der Steiermark, eingequetscht zwischen Bergen. Und Anna Doblander war dabei. Für internationale Einsätze des Roten Kreuzes hatte sich die Notärztin gemeldet, wie alle, die an diesem Kurs des Österreichischen Roten Kreuzes teilnahmen. Und wie wohl alle damals hatte auch sie nicht angenommen, dass die Situation, für die sie hier trainierten, einmal nicht viele Flugstunden entfernt, sondern in der eigenen Heimat stattfinden würde.

Noch ist es ruhig

Anna Doblander sitzt heute in ihrem Haus in Imst in Tirol, gleich in der Nähe vom Notarzt-Stützpunkt, den sie gemeinsam mit einem Kollegen leitet. Im Hintergrund sind ihre zwei Kinder zu hören. Und sie wartet auf die Welle an Erkrankungen, die kommen wird - während sie und ihre Kinder einander die Nägel bunt lackieren. »Noch«, so sagt sie, »ist es ruhig wie selten zuvor«. Das vorzeitige Ende der Skisaison beschert der Ärztin weniger Knochenbrüche, die umfassenden Einschränkungen des Personenverkehrs in Tirol - alle Gemeinden stehen unter Quarantäne - machen die Straßen sicher wie kaum sonst. Hatten sie auf ihrem Stützpunkt zuvor drei bis vier Notfälle pro Tag, so sind es heute ein bis zwei. Nur dass sich das wohl sehr schnell ändern wird.

Inmitten der Coronakrise in Europa ist vor allem Tirol zu einem Seuchengebiet geworden. Und das durchaus selbst verschuldet. Zu Schlamperei und Sorglosigkeit gesellten sich die Angst vor einem Einbruch des Skitourismus, die fatale Idee, im Coronakrisengebiet Italien gestrandeten Skiurlaubern ein Hüttengaudi-Ausweichquartier zu bieten. Sowie in der Folge Fahrlässigkeit, als es brenzlig wurde.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt inzwischen wegen »fahrlässiger Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten«, weil die Meldung von Coronafällen unterlassen wurde. Nachvollziehbar sind inzwischen Hunderte Coronainfektionen vor allem in Norwegen, Schweden, Dänemark, Deutschland und Island, die auf einen Urlaub in Tirol zurückzuführen sind. Vor allem Ischgl sowie das Paznauntal sind betroffen und auch die Arlbergregion, wo noch ein Ärztekongress abgehalten wurde, als bereits Warnungen aus dem Ausland eingingen. Der Kongress wurde schließlich abgebrochen - viele Ärzte aber blieben in der Region zum Skifahren.

Und Imst, das ist jener Ort, in dem bereits im Januar ein Coronafall den Tiroler Landesbehörden gemeldet worden war. Eine infizierte Deutsche hatte in der Region Urlaub gemacht. Zum damaligen Zeitpunkt wurden laut lokalen Behörden alle entsprechenden Maßnahmen unternommen. Ein Einzelfall. Damals war von einer Pandemie noch keine Rede.

Die Lage unterschätzt

Und heute? Anna Doblander liest Nachrichten, vergleicht Zahlen und Infektionskurven und wundert sich über sich selbst. Wie es sein kann, dass auch sie vor wenigen Wochen noch dachte, Covid-19 sei eine schlimmere Grippe. Dass auch sie die Lage unterschätzte, wie sie sagt, und erst langsam zu sickern begann, was da abgeht, als in Italien das Massensterben begann und italienische Kollegen Notarzt- und Intensivprotokolle übermittelten, die eines zeigten: Covid-19 ist eben keine schwerere Grippe.

In Eisenerz, damals in der Steiermark, war sie es, die bei lokalen Ärzten und Ortskundigen den Bedarf einer Katastrophenregion eruieren sollte: Wie viele Betten wird man brauchen, welche Menge an Schmerzmitteln, an Antibiotika, an Wasser? Was kann man schnell organisieren, wozu braucht es länger? Was ist vor Ort, was kann man einlagern, was nicht? Was brauchen die Menschen am dringendsten?

Und heute? Heute spricht Anna Doblander davon, was sie und ihr Stützpunkt brauchen, woran es bald mangeln könnte, welche Szenarien ihr und ihrem Team bevorstehen. Und die Antwort ist klar: Schutzausrüstung, Atemschutzmasken und in weiterer Folge Gesichtsschilde braucht es, denn anzunehmen ist, dass die Ruhe auf der Dienststelle sehr bald vorbei sein wird, sehr bald eine große Zahl an infizierten Patienten Hilfe benötigen wird. »Es beginnt langsam«, sagt sie.

Der Nachschub ist derzeit seitens der Landessanitätsdirektion und des Landesverbands des Roten Kreuzes gesichert, sagt sie. Aber letztlich hängt alles davon ab, wie groß der Bedarf sein wird.

Es ist die andere Seite, auf der sie jetzt steht. Nicht mehr Lernende in einem Kurs, sondern die, die den Bedarf einschätzen muss und bange auf die erste Hilfslieferung wartet. Sie ist es, die sich fragt, wie viel von dem Material, das da geliefert wird, auf ihre Dienststelle abfallen wird. Vor allem aber: Ob es reichen wird.

Tirol steht heute unter kompletter Quarantäne. Ortswechsel zwischen den Gemeinden sind nur in Ausnahmen erlaubt. Die Region ist abgeriegelt. Ausgegangen wird von einer hohen Anzahl an Infizierten, mit der man es zu tun bekommen wird.

Und letztlich wird es dann Anna Doblander sein, die mit ihren Kollegen an vorderster Front steht. Derzeit ist die Vorgangsweise klar: Nur wenn ein begründeter Verdacht besteht, wird die volle Schutzmontur angelegt. Ansonsten eben Atemschutz, Augenschutz und Handschuhe. Das, weil einfach keiner weiß, ob denn die Vorräte an Masken und Schutzbekleidung ausreichen. Die Masken können dampfsterilisiert und wiederverwertet werden, derzeit aber nicht die Anzüge.

Es sind die Erfahrungen aus Italien, die die Ärztin nervös machen. In Italien sind zehn Prozent der Erkrankten medizinisches Personal. Und gerade beim Intubieren, also beim Einführen eines Beatmungsschlauches in die Luftröhre, besteht nach jetzigem Stand der Dinge ein so extrem hohes Ansteckungsrisiko - Intubieren aber ist eine Maßnahme, die gerade für sie als Notärztin bei einer zu erwartenden großen Zahl an Coronafällen eine Standardprozedur sein wird.

Andererseits sind es auch die Erfahrungen aus dem nahen Italien, die den Medizinern in Tirol unter Umständen genau jenen entscheidenden Vorsprung vor einem massiven Ausbruch verschafft haben könnten, der letztlich den Ausschlag dafür geben wird, ob es in Tirol zu einem Kollaps des Gesundheitssystems kommt oder nicht. Und es sind Leute wie Anna Doblander, an denen es liegt. Die sich schlaugemacht haben, wie man sich nicht infiziert, also fit und damit mit seinen Fähigkeiten aktiv bleibt, die Abläufe trainiert, optimiert und der Lage angepasst haben, um die Risiken zu minimieren und das Bestmögliche aus den gegebenen Ressourcen herauszuholen.

Vorbereitungen getroffen

Anna Doblander hat die vergangenen Wochen versucht, mit den niedergelassenen Ärzten ihrer Region und den Spitalärzten ein Netzwerk aufzubauen. Es wurden gemeinsam Sachspenden gesammelt: Schutzmasken, Schutzkleidung, Schutzbrillen. Sie haben über das Internet Behandlungsprotokolle von Kollegen aus aller Welt ausgewertet und studiert, um sich bereit zu machen für das, was kommen wird: Patienten mit massiven Lungenbeschwerden, schwerer Atemnot, aber auch Herzmuskelentzündungen.

Alle Räder wurden in Gang gesetzt, um Lücken im Materialstand zu beheben. Studenten an der Universität Innsbruck bastelten Gesichtsschilde, erhältlich gegen eine freie Spende an das Gesundheitspersonal. Und es wurden Anleitungen zur Improvisation ausgetauscht. Bastelunterricht für Intensivmediziner: Wie kann man etwa Tauchermasken zu dichten und damit für das Umfeld eines Patienten infektionssicheren Masken umbauen, die einen Erkrankten auch noch bei der Atmung unterstützen? Oder wie kann man ein Beatmungsgerät so umbauen, das es statt eines gleich vier Patienten beatmen kann? Noch sind das alles Vorbereitungen, noch sind es Planspiele. Noch.

Noch unterscheidet die Ärztin bei ihren Einsätzen auch, ob mit der vollen Montur angefahren wird oder nicht. Noch spart sie Material. »Bald aber«, so sagt sie, »werden wir nicht mehr unterscheiden können, bald werden wir zu jedem Einsatz in voller Montur ausrücken müssen« - zum Selbstschutz. Und sie sagt: Testen müsse man, massenhaft testen, um einen besseren Überblick zu bekommen, womit man es hier eigentlich zu tun hat. Sie selbst wurde noch nicht getestet.

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