Werbung

Die Trauerarbeit der Goldfische

Thomas B. Steinke erzählt von einem faustischen Pakt im fernen Neufünfistan

  • Lesedauer: 8 Min.

Völlig eins mit sich und der Welt liegt Goldbeck glückselig im kühlen Halbdunkel der Ferienwohnung, aber schon bald, er ahnt es nur noch nicht, wird Hendrik Richard Goldbeck ein letztes Mal in dem Kinosaal sitzen, in dem er mit Bringsheim so oft all die wunderbaren Filme gesehen hat. Filme, die so eindrucksvoll an das schmerzliche Scheitern der großen Idee erinnern, dass sie schon allein deshalb von ewiger Schönheit sind.

Ein wunderbarer kleiner Saal mit abgeschabten Holzklappstühlen ist das. Bringsheim hat ihn aus einem alten Kino bergen lassen, welches weichen musste, um einen seiner Supermärkte zu errichten. Den Panzerkreuzer Potemkin haben Bringsheim und Goldbeck hier immer wieder gesehen und Iwan den Schrecklichen und den Stillen Don und Leuchte, mein Stern, leuchte und Kuhle Wampe und, und …

Die Trauerarbeit der Goldfische

Wenn die Geschichte wie eine Axt durch ein Leben fährt, kann sie es zerstören. Oder halbieren. Hendrik Richard Goldbeck ergeht es so. Er hat, wie so viele Ostdeutsche, zwei Leben gelebt. Der Arbeiterjunge wäre fast der jüngste Professor für Marxismus-Leninismus in der DDR geworden. Nach 1989 geht er wie Millionen andere Ostdeutsche durch eine Wüste des absoluten Nichtgebrauchtwerdens.

Aber er hat, was man gemeinhin Glück nennt, und wird vom ebenso mächtigen wie unsichtbaren Theo Otto Bringsheim als menschliches Strandgut auf dem WC einer Autobahnraststätte aufgelesen. Zwei Einsame aus unterschiedlichen Galaxien, die ein menschlicher Zwang zusammenführt. So beginnen Märchen. Oder Albträume. Der Autor Thomas B. Steinke, 1958 geboren, arbeitete nach dem Studium der Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin beim Fernsehen und ist seit über zwanzig Jahren freischaffender Autor. Er schreibt vor allem Drehbücher und Theaterstücke und legt nach Bronskis Treiben (Dittrich Verlag, 2008) mit Goldbecks Wenden im Verlag Quintus seinen zweiten Roman vor.

Thomas B.Steinke:
Goldbecks Wenden
Quintus Verlag
184 S., geb., 19,90 €

Und das wird dann vorbei sein? Ja, das wird dann vorbei sein. Für immer. Man wird Theo Otto Bringsheim nämlich an jenem kalten Morgen tot zwischen seinen geliebten Kois gefunden haben. Der eilig herbeigerufene Hausarzt wird, nachdem man Bringsheim aus dem Teich gefischt hat, Herzversagen diagnostizieren. Er kennt Bringsheim, der ansonsten niemanden an sich heranlässt, seit Jahrzehnten, und er wird keinen Moment mit der Todesursache zögern. Er scheint sie geradezu erwartet zu haben. Dass Bringsheim tot im Wasser zwischen seinen Fischen liegt, wird niemanden stören, hat sich der Alte doch extra einen Neoprenanzug maßschneidern lassen, um ihnen nahe zu sein. So wird sich Bringsheims Leben also unter seinen stummen Freunden vollenden. Und es wird ganz so scheinen, als seien diese zur Trauer fähig. Denn wenn Goldbeck schon im Kinosaal sitzt, werden die teuren Fische immer noch regungslos verharren. Goldbeck wird das bemerken, wenn er aus dem Fenster sieht, während er auf den Beginn dieser merkwürdigen Vorstellung wartet.

Johannes, Bringsheims Faktotum, ein Mann unbestimmbaren Alters, wird am Morgen persönlich bei Goldbeck aufgetaucht sein, um ihm die traurige Botschaft zu überbringen. Wie immer wird Bringsheim alles zwanghaft geregelt haben. Wer, wann und durch wen von seinem Ableben zu erfahren hat! Welche Trauerzeremonie stattzufinden hat! Wer neben wem zu sitzen hat! Wer reden darf, und wer schweigen muss. Der stumme Johannes wird darüber zu wachen haben. Er wacht immer darüber, dass Bringsheims Wille geschieht. Wie auf Erden, so nun im Himmel. Johannes, dieser geschlechtslose Diener, hat seinen Chef gefahren, er bügelte ihm die Hemden, er ließ ihm das Badewasser ein, er buchte seine Reisen, er organisierte ihm die Geburtstage, er war der Schatten seines Herrn, und er schien darin ganz aufzugehen.

Informieren Sie sich in unserem Dossier »BuchPlan C«. Novitäten und Programmvorschauen von meist alternativen Verlage machen wir sowohl im FMP1 als auch im Internet dem interessierten Publikum zugänglich.

Und auch jetzt wird ihm nichts anzumerken sein. Er wird einfach seine Arbeit erledigen, ganz so, als wenn sein Chef noch lebte. Dieser wird Johannes aufgetragen haben, dass er ihn, Goldbeck, in den Kinosaal zu bringen hat, um ihm etwas zu zeigen. Aber was? Goldbeck wird sich das fragen, während er versuchen wird, seine Nerven in den Griff zu bekommen. Was will Bringsheim ihm da noch antun? Einen letzten Gruß? Eine Art Vermächtnis? Oder etwa das Erinnern an gemeinsame Zeiten? Absurd. Soweit Goldbeck das überschaut, gibt es von ihm und Bringsheim weder gemeinsame Fotos noch gar irgendwelche Amateurfilme. Die beiden haben sehr vertraulich miteinander verkehrt, und Bringsheims Scheu vor jeglicher Öffentlichkeit ist ein Garant dafür, dass Goldbeck nicht mit unangenehmen Überraschungen wird rechnen müssen. Bringsheim ist nach dem Krebstod seiner Frau zu einem solchen Einzelgänger geworden, dass ihm ein gemeinsames Foto mit einem anderen Menschen wahrscheinlich schon als ein Akt unzulässiger Intimität erschien.

Auch wollte Bringsheim wie Gott sein, der nach seiner Auffassung unsichtbar in jedem Ding herrscht. Von ihm sollte man sich deshalb kein Bild machen. Goldbeck wird dann irgendwann ans Fenster treten, um den wertvollen Fischen bei ihrer Trauerarbeit genauer zuzusehen, und er wird hören, wie sich Johannes räuspert. Es ist dies die unnachahmliche Art dieser wandelnden Mumie, einen Befehl zu geben. Ein kurzes trockenes Räuspern. Goldbeck wird dann Platz nehmen, das Licht wird erlöschen und er wird auf der Leinwand Bringsheim sehen, der ihn freundlich lächelnd begrüßt. Und spätestens dann, wenn Goldbeck dieses Lächeln sieht, es kommt bei Bringsheim wie immer aus den zusammengekniffenen Augen, wobei der Mund ganz unbewegt bleibt, wenn Goldbeck also dieses Lächelns ansichtig wird, dann wird ihm schlagartig klar werden, dass der Alte ihn vermutlich bei seinen wahren Gedanken ertappt hat.

Oder, der Gedanke wird Goldbeck entsetzen, aber er ist logisch, hat der Alte ihm gar eine Falle gestellt? Das wird sich Goldbeck an jenem kalten Novembermorgen im Kinosaal fragen, aber momentan liegt er noch entspannt auf dem Rücken, alle viere von sich gestreckt, im kühlen Turmzimmer eines alten Weingutes in der Toskana, und döst. Karen hat ihn zu diesem Urlaub überredet, und während er seine nachmittägliche Siesta hält, liegt sie sicher wieder am Teich und liest. Sie kann einfach nicht untätig sein.

Goldbeck hatte das auch von sich gedacht, aber die Landschaft und die Hitze hier haben ihn eines Besseren belehrt, und vielleicht ist dies ja wirklich das eigentliche Glück: frei von Vergangenheit und Zukunft zu sein. Aber warum kann das nicht so bleiben? Warum wird es ihn derartig aus der Bahn werfen? War es ein Fehler, mit Karen hierher zu fahren? Erst später, wenn seine Zukunft auch schon wieder Vergangenheit geworden sein wird, wird Goldbeck begreifen, dass das Unheil unbemerkt und viel früher begonnen hat: mit einem Traum. Ein Traum war das, der, nachdem er einmal Goldbeck nicht beim Erwachen entglitten war, nun immer wieder zu ihm kam.

Ein Traum, in dem sich Goldbeck immer wieder dabei zusah, wie er apathisch herumstand und offensichtlich nachdachte. Und das missfiel ihm sehr. Seit einiger Zeit schon zählte das Denken nämlich nicht mehr zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Eigentlich wollte er es ganz einstellen, ebenso wie er vor Jahren bis auf wenige Ausnahmen (Wetter, Fußball, Verkehr) das Aufnehmen von Nachrichten weitestgehend eingestellt hatte, aber beim Denken gelang ihm das leider nicht. Es blieben Reste, die beunruhigend genug waren. Und dann machte er dieses närrische Gesicht, welches er gerade an sich sah. Sicher, Goldbeck war ein gutes Stück vorangekommen. Absurdeste Geschehnisse verwirrten ihn schon nicht mehr. Die Angebote der Industrie, die am Aussterben des Nachdenkens arbeitete, nahm er dankbar an. Er war unauffällig und damit erfolgreich geworden, aber nun fiel Goldbeck in die alte, schlechte Angewohnheit zurück: Er dachte. Und schlimmer noch, er dachte, so wie er es gelernt hatte, die Dinge zu Ende. Am Grunde der Moldau wandern die Steine. Und was er da sah, wollte ihn weglaufen lassen. Aber das gelang nicht. Goldbeck irrte währenddessen in einer Art Unterwäsche durch die ihm vertraute gläserne Einkaufsstadt, in der sich ganz offensichtlich gerade etwas veränderte. Er sah das an den Gesichtern der Schaufensterpuppen, die, gleich ihm, durch die künstliche Welt der Rolltreppen, Springbrunnen und Kunstpalmen eilten. Ja, wenn er die Angst in ihren Glasaugen sah, schien es ihm ganz so, als würde es fortan nun wirklich ein Vorher und ein Nachher geben, ganz so, als sei tatsächlich etwas Unwiderrufliches geschehen, ganz so, als sei eine Zeit der Ruhe für Goldbeck nun wirklich vorbei. Diese bleierne Zeit war nicht besonders aufregend für Goldbeck gewesen, aber sie war ihm vertraut, und wenn man, wie Goldbeck das tat, nur fest genug die Augen vor der Welt verschloss, dann war sie zu ertragen gewesen. Das jedoch, was nun vermutlich kam, gefiel Goldbeck gar nicht. Vor allem, weil er es nicht kannte. Und nichts hasste er mehr als das Fremde. Das war umso widersinniger, als dass seine ganze Existenz darauf fußte, anderen Menschen genau dies zu verkaufen: die Lust auf das Fremde, erfüllt durch die Fahrt in die Fremde. Goldbeck war Traumreisenverkäufer. Aber sehr zu seinem Glück war er bei einer der Fusionen zu einem solch hohen und unsichtbaren Tier geworden, dass er selbst nicht mehr reisen musste, sondern nur noch die Maschinerie des Kaufens und Verkaufens, des Übernachtens und Kreuzfahrens, des Swimmingpoolens und Windsurfens am Laufen hielt.

Er tat dies geradezu unsichtbar von seinem Büro im dreißigsten Stock aus, und er war genau auf dem Weg in dieses Büro, als das Geahnte geschah. Und nun stand er hier, beim Zwerg, der die Wahrheit sprach, und machte einen ebenso ratlosen Eindruck wie der Zwerg selbst. Denn der Zwerg schwieg. Obwohl Goldbeck gerade eine Münze eingeworfen hatte. Dies bestätigte erneut Goldbecks Verdacht, dass es sich bei dem Zwerg, einem mechanischen Krüppel, der, wenn man ihn mit Geld fütterte, mit krähender Stimme den Spruch des Tages zum Besten gab (Hoffnung ist Mangel an Information. / Kommunismus oder Barbarei. / Die Heimat des Sklaven ist der Aufstand!), um eine Apparatur handelte, in der sich, genau wie beim einst berühmten Schachtürken, ein einsamer Mensch verbarg. Und dieser Mensch hatte seinen Platz verlassen? Er gab keine Orakel mehr von sich? Allein die Vorstellung einer solchen Pflichtverletzung beunruhigte Goldbeck mehr als alles andere.

Thomas B.Steinke:
Goldbecks Wenden
Quintus Verlag, 184 S., geb., 19,90 €

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal