Explosion der Fallzahlen erwartet

Corona-Statistiken in Brasilien geben reale Lage nicht wieder. Viele Tote nicht erfasst

  • Niklas Franzen, São Paulo
  • Lesedauer: 4 Min.

Zahlreiche offene Gräber, symmetrisch aufgereiht, aus der Luft fotografiert. Die Aufnahme des Vila Formosa-Friedhofes in São Paulo machte schnell die Runde. Die große US-Zeitung »Washington Post« druckte das Bild sogar auf Seite eins. Das Foto drückte aus, was für viele Brasilianer*innen bereits eine schmerzhafte Gewissheit war: Die Corona-Krise ist endgültig im größten Land Lateinamerikas angekommen.

»Wir hatten bei uns zahlreiche Leichen, die unter Corona-Verdacht standen«, sagt die Mitarbeiterin eines forensischen Instituts in São Paulo. »Da sie aber zuvor nicht getestet wurden, haben wir die Leichen nicht untersucht und direkt zum Friedhof gebracht.« Die Frau, die ihren Namen nicht in einer Zeitung lesen will, ist sich sicher: Die Dunkelziffer der Toten durch Corona ist in Brasilien viel höher, als die öffentlichen Statistiken zeigen. Offiziell waren bis zum Dienstag 566 Menschen an Covid-19 gestorben. Auch Recherchen der Tageszeitung »Folha de São Paulo« zeigen: Täglich werden allein in der Megametropole São Paulo - dem Epizentrum der Krise - bis zu 40 Menschen begraben, die unter Corona-Verdacht standen, aber nicht getestet wurden.

15 Millionen Corona-Tests hatte das Gesundheitsministerium versprochen. Angekommen sind davon bisher nicht mehr als 0,5 Prozent, wie Recherchen des Enthüllungsmediums »The Intercept Brasil« zeigen. In den Laboren des für das Ministerium tätigen Instituto Adolfo Lutz warten zudem noch Tausende Proben auf ihre Untersuchung. Pro Tag können hier etwa 1 000 Proben bearbeitet werden. Es ist davon auszugehen, dass die derzeitig verbreiteten Zahlen eher die Werte von vor zwei Wochen widerspiegeln. Viele Experten rechnen mit einer Explosion der Fallzahlen in nächster Zeit.

Die Gesundheitskrise hat zu einem politischen Duell zwischen zwei Männern geführt; Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta geriet ins Visier von Präsident Jair Bolsonaro. Am Montag dann der Showdown: Bolsonaro gab per Twitter Mandettas Entlassung bekannt. An seine Stelle sollte der ideologische Hardliner Osmar Terra rücken. Wenige Minuten löschte Bolsonaro seinen Tweet wieder. Medien berichteten, Militärs in der Regierung hätten Bolsonaro Druck gemacht, Mandetta im Amt zu belassen. Die Episode ist symptomatisch für Bolsonaros Zickzackkurs in der Krise.

Nachdem der Präsident das Virus wochenlang als »kleine Grippe« verharmlost hatte, gab er sich zuletzt in einer TV-Ansprache geläutert und bezeichnete Corona als »größte Herausforderung unserer Generation«. Doch der »Kurswechsel« hielt nur kurz an: Einen Tag später erklärte Bolsonaro in einem Radiointerview, dass er per Dekret eine Rückkehr zur Normalität anordnen wolle, und attackierte Gesundheitsminister Mandetta scharf. Am Sonntag spazierte Bolsonaro in der Hauptstadt Brasília im Regierungsviertel herum, nahm an einer Gebetsrunde von Evangelikalen teil und schoss Selfies mit Unterstützer*innen - obwohl er sich eigentlich isolieren müsste, da er Kontakt mit Corona-Infizierten hatte.

Während Brasiliens Präsident als einer der letzten Staatschefs der Welt die Krise weiter herunterspielt, verteidigt Gesundheitsminister Mandetta harte Isolationsmaßnahmen und hatte Bolsonaro kritisiert. Rücktrittsgerüchte kommentierte er so: »Ein Arzt lässt seinen Patienten nicht zurück.« Für seinen Kurs bekommt Mandetta von vielen Seiten Rückendeckung: Etliche Abgeordnete, Minister und Oberste Richter stellten sich in den vergangenen Tagen auf Mandettas Seite. Die Gouverneure fast aller Bundesstaaten machten deutlich, dass sie Bolsonaros Corona-Politik nicht mittragen und entsprechende Anweisungen aus der Hauptstadt Brasília schlichtweg ignorieren werden.

Der Präsident ist mittlerweile politisch weitgehend isoliert und die Wut in der Bevölkerung wächst. Laut Umfragen stufen 76 Prozent der Brasilianer*innen die Arbeit Mandettas als gut ein, während das nur 33 Prozent bei Bolsonaro tun. Eine weitere Studie zeigt, dass ebenfalls 76 Prozent Maßnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus verteidigen.

Seit mehr als drei Wochen protestieren Brasilianer*innen jeden Abend an ihren Fenstern gegen die Regierung. Sie hauen auf Töpfe, brüllen Sprechchöre gegen die Regierung und zünden Feuerwerk. Die kurzzeitige Entlassung des populären Gesundheitsministers machte sich am Montagabend sofort bemerkbar - die Proteste waren so laut wie seit Tagen nicht mehr.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal