Freiheit auf Raten

China schließt Wuhan wieder an den Rest des Landes an

  • Fabian Kretschmer, Peking
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Timo Balz zum ersten Mal nach fast zwei Monaten die Straße vor seiner Wohnsiedlung betritt, zückt der 45-jährige Schwabe sein Smartphone und verschickt euphorisch Selfies an seinen Freundeskreis. Der erste Gang in Freiheit führt ihn schließlich zum nächstgelegenen Supermarkt, direkt ans Süßigkeitenregal: »Ich habe Unmengen Chips und Schokoriegel geholt«, erinnert sich der Professor für Professor für Fernerkundung an der Universität Wuhan. Die vergangenen Wochen über hat die vierköpfige Familie ausschließlich in ihrem Apartment verbracht, wo das Nachbarschaftskomitee regelmäßig Lebensmittellieferungen vor die Tür geliefert hat. Für Gemüse, Reis, ja auch Fleisch war gesorgt. Doch die erste Tüte Paprika-Chips nach dem Aufheben der Ausgangssperre werden die Kinder von Balz wohl nicht so schnell wieder vergessen.

Nachdem bereits erste Einschränkungen innerhalb der Stadt gelockert wurden, durften die Bewohner Wuhans erstmals seit dem 23. Januar wieder die Stadt verlassen. Mit über 2500 Virustoten fallen rund drei Viertel aller landesweiten Covid-19-Opfer auf die zentralchinesische Stadt. In Wuhan hat das Virus tiefe Narben in der kollektiven Psyche hinterlassen: Für Jahrzehnte wird der Erreger mit der Stahl- und Industriestadt verbunden bleiben.

Für Timo Balz, mutmaßlich der letzte verbliebene Deutsche in der Stadt, fühlt sich das Leben in Wuhan fast wieder normal an: Der Lieferdienst kommt zum Pförtnerhäuschen, um das bestellte Essen abzugeben. Die Gärtner stutzen den Rasen im Vorhof. Und von der Straße hört man wieder Menschenlärm.

Doch verglichen mit dem Alltag vor der Krise ist natürlich immer noch nichts normal: Nur jeden zweiten Tag hat der Deutsche Ausgang, beschränkt auf essenzielle Notwendigkeiten. Die Quarantäne, so betont Balz, habe ihm jedoch persönlich wenig zugesetzt: Sein Gehalt von der Universität wurde weiterhin überwiesen, in der Zeit hat der Wissenschaftler eine Studie publiziert. In den sozialen Netzwerken Chinas lassen sich Szenen dieses neuen Normalzustands in Wuhan ausmachen: Die Einkaufszentren sind mittlerweile geöffnet, jedoch weitgehend leer. Erste Hobbyangler haben sich bereits am Ufer des Jangtse-Flusses versammelt. Die Passanten auf den Straßen tragen ausschließlich Gesichtsmasken, teilweise auch medizinische Schutzbrillen und Handschuhe. Eine chinesische Endzwanzigerin berichtet, dass die Stimmung nach wie vor angespannt sei. Eine zweite Infektionswelle könne schließlich jederzeit ausbrechen.

Die offiziellen Zahlen sind nämlich eher als grober Gradmesser zu werten. Schließlich haben die Behörden ihre Kriterien für die offizielle Zählweise im Laufe der Epidemie sechsmal geändert. Am 1. April hat man sogenannte asymptomatische Fälle inkludiert; stille Virusträger, die keine Symptome zeigen, aber laut internen Regierungspapieren, die die Zeitung »South China Morning Post« publizierte, rund ein Drittel aller Infizierten ausmachen.

Seither haben die Behörden Wuhans fast 200 asymptomatische Fälle gemeldet, knapp 700 befinden sich zudem unter ärztlicher Beobachtung. Ein Blatt, das zur Mediengruppe der Parteizeitung »Renmin Ribao« gehört, hatte einen Arzt aus Wuhan zitiert, der von bis zu 20 000 asymptomatischen Fällen ausging - der Artikel blieb allerdings nicht lange online.

In Wuhan wird die Freiheit nur schrittweise getestet: Die Metallzäune vor den Wohnsiedlungen der Stadt sind noch nicht abgebaut und die Testrate wurde auf 12 000 Personen pro Tag angehoben. Nach dem Prinzip »Trial and Error« wird derzeit erprobt, ob die neuen Freiheiten der Bewohner zu einem erneuten Anstieg an Virusinfektionen führen. Um den schrittweisen Übergang zur Normalität zu kontrollieren, bekommen die Bewohner über eine Smartphone-App einen farbigen QR-Code zugewiesen. Nur wer nachweislich 14 Tage ohne Symptome ist, bekommt einen grünen Code und darf sich frei innerhalb der Stadt bewegen.

Auch Emmanuel Geebelen, 42 Jahre, muss seinen QR-Code scannen, um seine Wohnung in Wuhan zu verlassen. Ein Mitglied des Nachbarschaftskomitees unterrichtet der gebürtige Genfer darüber, wohin er geht. »Das soll einem bewusst machen, dass man sich genau überlegt, ob man rausgeht oder nicht«, sagt der Schweizer. Dabei war der gelernte Uhrmacher mit seiner Familie bereits im Restaurant als auch in einem Massageladen. »Die Regierung will schließlich auch die Wirtschaft ankurbeln. Wir bekommen teilweise Coupons als Anreiz, shoppen zu gehen«, sagt er.

Geebelen betont ebenfalls, der Ausgangssperre auch Positives abgewonnen zu haben - etwa die Zeit mit seinen zwei Kindern. Nur habe seine chinesische Frau, ehemals Leiterin eines Kindergartens und einzige Ernährerin der Familie, aufgrund der Krise ihre Arbeitsstelle verloren. Doch auf pragmatisch chinesischem Wege hat sie auch dieses Problem gelöst: Per Wechat-App - dem chinesischen Pendant von Whatsapp - hat Geebelens Frau den Vertrag für eine neue Stelle im ostchinesischen Hangzhou unterschrieben. Per Videoschalte arbeitet sie bereits von zu Hause aus. Spätestens in einer Woche wird die Familie übersiedeln - die Kaution für die Wohnung ist bereits hinterlegt.

Der Deutsche Timo Balz freut sich dennoch darauf, dass die Einschränkungen des Alltags endlich verschwinden. Was er als Erstes machen würde? »All die normalen Dinge: spazieren, ins Büro gehen - und endlich mal wieder mit der ganzen Familie ein schönes Essen im Restaurant genießen.«

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