»Ich habe keine Angst«

Die Linke-Politikerin Christiane Schneider wurde von Nazis bedroht. Das hält sie nicht von ihrer antifaschistischen Arbeit ab. Zum Beispiel am 1. Mai

  • Gaston Kirsche
  • Lesedauer: 10 Min.

Wie geht es Ihnen – mit eingeschränkten sozialen Kontakten?

Es ist schon ein tiefer Einschnitt ins Leben. Ich versuche, die fehlende Nähe, die spontanen Kommunikationen auf andere Weise auszugleichen, telefoniere für meine Verhältnisse viel, habe etwa Kontakte zu älteren und allein lebenden Verwandten neu geknüpft oder verstärkt. Ich nehme mir mehr Zeit als früher zum Lesen, lasse mich mehr anregen.

Im Interview

Christiane Schneider war von 2008 bis 2020 Abgeordnete für die Linke in der Hamburgischen Bürgerschaft, seit 2011 auch deren Vizepräsidentin. Politisch aktiv ist sie seit 1967: in den 70ern im Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW), in den 80ern im Bund Westdeutscher Kommunisten, seit 1992 in der PDS, danach in der Linken. Dort war sie lange Fachsprecherin ihrer Fraktion für Antifaschismus, Flüchtlinge, Innenpolitik und Religion. Im Interview spricht sie über ihre erste Rede in der Bürgerschaft und ihre Zukunft in der antifaschistischen Arbeit.

Foto: Gaston Kirsche

Was lesen Sie zum Beispiel?

Ich habe ein eigenes kleines Programm, zum Beispiel lese ich, was ich mir seit Jahren vorgenommen hatte, »Tod in Hamburg«, das Buch von Richard J. Evans über Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830 bis 1919, lerne Italienisch und gehe möglichst täglich spazieren. Leider fällt die Coronakrise mit meinem Übergang ins Rentnerinnendasein zusammen. Den hatte ich mir wirklich anders vorgestellt. Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit und der erzwungene Verzicht auf einen lange geplanten Urlaub in Süditalien machen es mir ein bisschen schwerer.

Sie sind dieses Jahr aus Altersgründen aus der Hamburgischen Bürgerschaft ausgeschieden. Werden Sie sich weiter für die Linke engagieren?

Ich muss mich noch sortieren. Aber meinen Schwerpunkt möchte ich auf antifaschistische Arbeit legen.

Haben Sie dafür schon konkrete Ideen?

Nein, nur ansatzweise. Ich werde im Hamburger Bündnis gegen Rechts mitarbeiten, mich aber auch ausführlicher mit Entwicklungen der AfD in Hamburg und bundesweit, mit ihrem Umfeld und rechter Strategieentwicklung auseinandersetzen. Welche Projekte daraus entstehen, lasse ich noch auf mich zukommen. Gerne werde ich mich auch in der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hamburg betätigen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit verschiedensten Problemen praktischer Politik musste in den letzten zwölf Jahren leider oft hinter der parlamentarischen Arbeit zurückstehen. Ich hoffe, dass es mir gelingt – ich nehme es mir jedenfalls vor –, einige Erfahrungen aus der parlamentarischen Arbeit kritisch zu verarbeiten und aufzuschreiben.

Klingt ein bisschen wie eine außerparlamentarische Fortsetzung Ihrer Tätigkeit als Innenpolitikerin in der Bürgerschaft.

Ja, jedenfalls teilweise. Zum Beispiel bleibt es mir ein Anliegen, dass auch Hamburg endlich noch einen NSU-Untersuchungsausschuss einsetzt, wenn vielleicht auch mit erweiterter Fragestellung. Auf diesem Feld sind nach wie vor ja viele außerparlamentarische Akteurinnen und Akteure unterwegs, die die Forderung lebendig gehalten haben.

Sind Sie auch am 1. Mai dabei? Da ist eine bundesweite Nazi-Demo in Hamburg geplant.

Die Nazis haben statt der Demonstration inzwischen eine Versammlung mit 25 Personen im Stadtteil Harburg angemeldet. Eine Genehmigung gilt derzeit als wahrscheinlich. Schon vor vielen Wochen hatte sich ein breites Bündnis gebildet, um den Aufmarsch zu verhindern. Das hat auf die neue Situation nun mit der Anmeldung mehrerer Mahnwachen reagiert. Das freie Radio FSK wird in Kooperation mit dem Hamburger Bündnis gegen Rechts in einer vierstündigen Sendung aktuell berichten und Beiträge zum antifaschistischen Protest senden. Auch unter den gegenwärtig schwierigen Bedingungen wird antifaschistischer Protest am 1. Mai in Hamburg deutlich vernehmbar sein.

Sie haben Anfang des Jahres eine Morddrohung vermutlich von Rechtsextremen erhalten und veröffentlicht. Wie waren die Reaktionen?

Ich habe sehr große Solidarität erfahren und viele Angebote zur Unterstützung bekommen, nicht nur aus meinem engeren politischen Umfeld. Das Neue an dieser Morddrohung war für mich der persönliche Bezug. Ich hatte und habe schon den Eindruck, persönlich gemeint zu sein, auch wenn ich weiß, dass andere Menschen und eine Moschee ähnliche Drohungen aus derselben Richtung erhalten haben. Leider kann man sich in der heutigen Zeit der zunehmenden neonazistischen und rassistischen Gewalt nicht darauf verlassen, dass solche Drohungen großspuriges Gerede bleiben. Auch wenn ich keine Angst habe, haben mir die Solidarität und die erfahrenen Freundschaftsgesten sehr gut getan.

Sie sind über »Die Linke« hinaus in Hamburg anerkannt, auch weil Sie Mitglied des Präsidiums der Bürgerschaft waren. Wie blicken Sie heute auf die Reaktionen auf Ihre erste Rede in der Bürgerschaft, als Sie den Dalai Lama kritisierten?

Damals hat mich der Shitstorm unerwartet getroffen, heute sehe ich den missglückten Start sehr gelassen. Ich habe eine im Rückblick gar nicht so schlechte Rede an einem unpassenden Ort gehalten. Es ging mir um die Kritik der höchst problematischen und demokratiefeindlichen Verknüpfung zweier Rollen, die der Dalai Lama beansprucht, nämlich nicht nur die Rolle eines geistigen, sondern auch eines staatlichen Oberhaupts. Deshalb zog ich den Vergleich zu Ajatollah Khomeini (politischer und religiöser Anführer der Islamischen Revolution von 1979 im Iran, Anm. der Red.). Das war es, was mir die Empörung einbrachte. Viele Sozialdemokraten verließen demonstrativ den Plenarsaal. Ich hatte unterschätzt, dass viele auf einen Skandal der gerade erst in die Bürgerschaft eingezogenen Linken nur gewartet hatten. Und ich hatte nicht bedacht, dass eine Parlamentsdebatte kein Ort für eine wissenschaftliche Erörterung ist. Dass es hier um anderes geht – nämlich um die Austragung harter politischer Konflikte – habe ich auf diese Weise schnell gelernt. Allerdings habe ich die ganzen zwölf Jahre viel Wert darauf gelegt, auch in den härtesten Kontroversen – und in der Innenpolitik sind die Kontroversen wirklich hart! – unsere Auffassungen und Forderungen argumentativ zu verfechten.

Hat sich das Verhältnis zu den Kolleg*innen dann gebessert?

Es hat ein paar Jahre gedauert, bis die vielen heftigen und teilweise direkt bösartigen Zwischenrufe bei meinen Reden ausblieben, auch in den Konflikten in der Bürgerschaft im Zusammenhang mit G20. Am Ende habe ich, bei allen politischen Differenzen, aus den Reihen der anderen demokratischen Fraktionen viel Respekt erfahren. Und ich habe auch gelernt, Argumente manch anderer Abgeordneter zu schätzen, auch wenn ich sie nicht geteilt habe: Argumente zwingen, die eigene Positionierung immer wieder neu zu überdenken.

Aber das bessere Argument zählt nicht immer. Einmal sagten Sie mir, die Innensenatoren der SPD – zuerst Michael Neumann, jetzt Andreas Grote – würden Sie nicht sehr schätzen?

Richtig, am Ende zählt nicht das bessere Argument, sondern zählen die Mehrheitsverhältnisse. Wenn es hochkommt, werden ein bis zwei oppositionelle Anträge in einer Legislaturperiode angenommen, während selbst der dünnste Antrag von Mehrheitsfraktionen verabschiedet wird. Die meisten Anträge werden nicht mal zur weiteren Beratung in Ausschüsse überwiesen. Darüber hatten sich SPD und Grüne in ihrer Oppositionszeit gerne beklagt, um, kaum an der Regierung, genauso zu verfahren. Dieser Umgang mit der Opposition ist in Hamburg, wo die besondere Bedeutung von Opposition in der Verfassung festgeschrieben ist, krass. Dass gerade die Innensenatoren unsere an Grund- und Freiheitsrechten orientierte Oppositionspolitik nicht besonders schätzen, sehe ich eher als Kompliment. Dass ihre Angriffe auf mich oft eine ausgesprochen persönliche Note hatten, spricht nicht für sie. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass gerade Sozialdemokraten als Innensenatoren einen ziemlich schlechten Stand gegenüber der Polizeiführung haben und meinen, sie könnten sich auf diese Weise als Hardliner profilieren.

Die beiden Sozialdemokraten glaubten, sich als Innensenatoren als hart gegen Linke vorgehend bei der Polizeiführung Anerkennung verschaffen zu können?

Ich möchte es anders formulieren: Da sie nicht »Fleisch vom Fleische« der Polizei sind, sondern Zivilisten, werden sie nicht ernst genommen. Es gäbe viele Anlässe auch für Behördenleiter, sich mit der Polizei auseinanderzusetzen, ich erinnere zum Beispiel an die Ausweisung eines großen Gefahrengebietes Anfang 2014 – eine Fläche mit rund 80.000 Anwohner*innen war betroffen –, das die Polizeiführung trotz der absehbaren politischen Auswirkungen ohne Rücksprache mit der Behördenleitung und dem damaligen Polizeipräsidenten, einem Zivilisten, ausgerufen hatte. Die Polizeiführer hatten den Innensenator erst unmittelbar vor der Verkündung des Gefahrengebiets informiert. Der ließ sich während der tagelangen Auseinandersetzungen buchstäblich an der Leine führen, anstatt der Polizei die Grenzen aufzuzeigen – ein politisches Totalversagen. So gäbe es viele Beispiele. Aber immerhin hat der gegenwärtige Innensenator nach jahrelangen Auseinandersetzungen in der Stadtgesellschaft und nach wiederholten Anträgen von uns, von der FDP und in ihrer Oppositionszeit auch von den Grünen nach G20 die gesetzliche Verankerung der individuellen Kennzeichnungspflicht für Polizist*innen in der Polizei durchgesetzt.

Bei der Verteidigung der Bürger*innenrechte gegen die Polizeistrategie des Kontrollierens und Strafens anlässlich des G20-Gipfels und in dem Sonderausschuss danach waren Sie sehr engagiert. Hat sich der Einsatz gelohnt?

Für uns, die Bürgerschaftsabgeordneten der Linken, war es selbstverständlich, dass wir während der gesamten G20-Protestwoche als parlamentarische Beobachter vor Ort waren. Wir konnten verschiedentlich deeskalieren, wir haben vieles gesehen und haben darüber berichtet. Nach dem Gipfel haben der Senat und alle anderen Fraktionen in der Bürgerschaft sowie weitgehend die lokalen Medien – Ausnahmen waren vor allem die »taz Nord« und teilweise der NDR – eine absolut einseitige Erzählung über den Protest von vielen zehntausend Menschen verbreitet. Ich erinnere an Olaf Scholz‘ »Polizeigewalt hat es nicht gegeben«. Die Erzählung der an den Protesten Beteiligten, der von unverhältnismäßiger Polizeigewalt Betroffenen und der Menschen in den von dem gewaltigen Polizeiaufgebot am meisten betroffenen Vierteln in der Innenstadt und in Altona fand wenig öffentliches Gehör. Ich denke, unsere Arbeit im Sonderausschuss und die zahlreichen Anfragen, die wir gestellt haben, haben dazu beigetragen, der offiziellen Erzählung etwas entgegenzusetzen, Darstellungen der Polizei zumindest teilweise zu widerlegen und einige Unwahrheiten aufzudecken. Die Arbeit war anstrengend, aber sie hat sich gelohnt.

Für Ihren kontinuierlichen Einsatz für Bürger*innenrechte haben Sie bei einem Heimspiel des FC St. Pauli in der Fankurve eine außergewöhnliche Anerkennung bekommen: Eine Danksagung auf einem 50 Meter langen Transparent. Waren Sie davon überrascht?

Absolut. Ich war gar nicht im Stadion, habe noch während des Spiels ein Bild geschickt bekommen. Ich habe mich wirklich riesig gefreut.

Von Seiten der CDU und der SPD wurde Ihnen häufiger eine Verharmlosung linker Gewalt vorgeworfen worden. Trifft Sie dieser Vorwurf?

Nein. Ich habe mir sehr gut überlegen müssen in diesen zwölf Jahren, wie ich mich positioniere, um mich in schwierigen Konflikten halten zu können. Das kann ich nur, wenn ich authentisch bin, meine Meinung sage. Meine Meinung habe ich in Bürgerschaftsreden öfter in dem Satz zusammengefasst, dass ich für Gewaltfreiheit auf der einen Seite bin und für Rechtsstaatlichkeit auf der anderen Seite. Da die Polizei Trägerin des staatlichen Gewaltmonopols ist, ist sie unter allen Umständen gefordert, rechtsstaatlich zu handeln. Unverhältnismäßige Polizeigewalt zu kritisieren und rechtsstaatliches Handeln einzufordern, bringt die Law-and-Order-Fraktion in CDU und SPD schnell in Rage. Ihre Einwände bewegen sich meist auf dem Niveau: Da die Polizei die Polizei ist, handelt sie nicht rechtswidrig.

Sie haben sich selbst mal als libertäre Sozialistin bezeichnet. Was meinen Sie damit?

Das würde ich heute nicht mehr so sagen. Was ich damit aber zum Ausdruck bringen wollte und was ich nach wie vor vertrete, ist, dass die Grund- und Freiheitsrechte von fundamentaler Bedeutung sind und dem Staat und seinen Befugnissen Grenzen setzen. Das haben die kommunistischen und sozialistischen Bewegungen in der Vergangenheit nicht so gesehen und anders gehandhabt. Daraus habe ich, die ich aus dem KBW komme, einer westdeutschen K-Gruppe, wie viele andere Konsequenzen gezogen. Gesellschaftlichen Fortschritt kann es ohne Fortschritt der Emanzipation der Individuen nicht geben. Auch deshalb habe ich übrigens bei meiner ersten Kandidatur für die Bürgerschaft Grund- und Menschenrechte als meine Schwerpunkte genannt und mich um die Ressorts Innen- und Justizpolitik beworben.

Bezeichnen Sie sich weiterhin als Sozialistin?

Selbstverständlich. Ich kämpfe dafür, um mit Marx zu sprechen, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Geändert haben sich meine Auffassungen darüber, wie dieser Kampf zu führen ist, wie der Prozess der Emanzipation vorankommen kann.

Zum Schluss: Kauft jetzt in der Coronakrise jemand für Sie ein?

Nein. Ich kaufe selbst ein und gehe auch jeden Tag spazieren. Aber viele Menschen haben angeboten, mich, wenn es nötig wird, zu unterstützen. Für diese Solidarität bin ich dankbar.

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