- Wirtschaft und Umwelt
- Näher*innen in der Coronakrise
Ohne Mundschutz nähen
In der Modebranche sind vor allem Näher*innen von der Coronakrise betroffen
Während Kurzarbeit bei den Modeunternehmen in Deutschland in der Coronakrise abgesichert ist, sieht es mit dem Lohn am Ende der Lieferkette finster aus. In Kambodscha haben laut Angaben der Regierung mindestens 91 Bekleidungsfabriken wegen der Auswirkungen der Coronakrise die Arbeit eingestellt, 61 500 Beschäftigte seien betroffen. In Bangladesch haben in den vergangenen Wochen nach Gewerkschaftsangaben mindestens 10 000 Beschäftigte ihre Jobs verloren. Tendenz steigend. Modeunternehmen hatten Aufträge im Wert von mehreren Milliarden Dollar ausgesetzt oder storniert. Hinzu kommt, dass in vielen Fällen bereits produzierte Ware nicht bezahlt wurde. Inzwischen haben einige Textilunternehmen wie der schwedische Modekonzern H&M versprochen, ihre Aufträge wieder zu aktivieren und zu bezahlen.
Weil ein Großteil der Fabriken wegen der Ausgangssperren geschlossen wurde, hat die Regierung zudem ein Rettungspaket für die Löhne der Textilarbeiter*innen im Wert von 50 Milliarden Taka (rund 538 Millionen Euro) angekündet. Den vorübergehend beurlaubten Arbeiter*innen steht laut Gesetz ein Teillohn zu. 98 Prozent der Lieferanten beteiligten sich daran laut einer Studie des Center for Global Workers’ Rights nicht. Zuvor hatten Hunderte Textilarbeiter*innen ihre Löhne mit Protestaktionen eingefordert.
Doch nicht nur in Asien sind die Auswirkungen auf die Textilbranche dramatisch. Modefirmen mit Hauptsitz in Deutschland sind auch wichtige Auftraggeber in der Ukraine, Bulgarien, Kroatien und Serbien. In diesen Ländern arbeiten nach Angaben der Clean Clothes Campaign (CCC) rund 120 000 Arbeiter*innen allein für deutsche Marken wie Hugo Boss, Gerry Weber, Esprit sowie Supermarkt- und Drogerieketten.
In einem am Montag vorgestellten Bericht von CCC und der Hilfsorganisation Brot für die Welt berichten Näher*innen in Lieferfirmen von klaren Übertretungen des jeweiligen nationalen Arbeitsrechtes. Für Beschäftigte aller untersuchten Betriebe seien Drohungen, Beleidigungen, Demütigungen und Einschüchterungen alltäglich. Die befragten Arbeiter*innen sprachen einhellig von ständiger Erschöpfung und chronischer Müdigkeit.
In der Coronakrise werden viele Arbeiter*innen zudem genötigt, unbezahlten Urlaub zu nehmen. Wenn dagegen gearbeitet wird, fehlten Gesundheitsschutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19. In einigen Fällen hätten sich die Näher*innen selbst Schutzmasken genäht, die wichtigeren Abstandsregelungen würden aber nicht umgesetzt. Das kann schwerwiegende Folgen haben. So berichtet Artemisa Ljarja von der CCC in Albanien, massiv in der Kritik stehe eine Schuhfabrik, die nach einer zweiwöchigen Pause die Produktion wieder aufgenommen habe und wo die Zahlen der Infizierten schnell in die Höhe schossen. Ihre Kollegin Oksana Dutchak aus der Ukraine berichtet von Unternehmen, die zwar infizierte Arbeiter*innen nach Hause geschickt, aber keine weiteren Tests vorgenommen hätten. Zudem sei in vielen Ländern der Öffentliche Nahverkehr ausgesetzt, so dass Arbeiter*innen entweder zu Fuß oder in überfüllten Privatbussen zur Schicht kämen. Hinzu komme, dass die Löhne in der Textilproduktion auch in Ost- und Südosteuropa extrem niedrig sind. Wer wie beispielsweise eine Näherin in der Ukraine umgerechnet nur 126 Euro pro Monat verdient, kann kein Geld für Notfälle wie die Coronakrise zurücklegen. In Serbien etwa verdienen laut der offiziellen Statistik Beschäftigte in der Bekleidungsbranche den niedrigsten Lohn in allen Sektoren der Industrie. Er beläuft sich lediglich auf 62 Prozent des nationalen Durchschnittslohnes. In der Ukraine liegt der gesetzliche Netto-Mindestlohn weit unter der Armutsgrenze und beträgt nur 17 Prozent eines Basis-Existenzlohnes. 2019 lag er bei 126 Euro. Oftmals werde der Lohn zudem verspätet oder nicht vollständig ausgezahlt.
In der aktuellen Krise sei es umso wichtiger, Aufträge zu bezahlen, fordert die CCC. Modeunternehmen müssten darüber hinaus »ihre Lieferanten dabei unterstützen, den Gesundheitsschutz der Näherinnen sicherzustellen«, so Bettina Musiolek von der CCC. Dazu gehöre sicherer Transport zu den Fabriken, Arbeitsplätze mit ausreichend Abstand zwischen den Nähmaschinen sowie Schutzausrüstung. »Die Coronakrise hat die Modehäuser getroffen - doch derzeit tragen vor allem die letzten Glieder der Kette, die Beschäftigten, die Hauptlast.«
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