Der Hahn kehrt zurück

Im Gegensatz zu mehr als 20 000 Briten hat Premier Boris Johnson die Coronavirus-Erkrankung überlebt

  • Ian King, London
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Montag trat der von Covid-19 genesene britische Premier Boris Johnson wieder seinen Dienst an und sprach von einem Ringkampf gegen einen unsichtbaren Straßenräuber, den die Nation gerade dabei war, niederzuzwingen. Der Zeitpunkt zur Auflockerung des Lockdowns, der zu diesem Erfolg geführt habe, sei jedoch noch nicht gekommen.

Johnson hat seinen Krankenhausaufenthalt überstanden - im Gegensatz zu mehr als 20 000 anderen Briten und einer amtlich nicht gezählten Gruppe von schätzungsweise mehr als 7500 Landsleuten, die in Pflegeheimen dem Coronavirus erlagen. Bei der Verschönerung der Todesstatistik kann sich die konservative Regierung sehen lassen. Beim Krisenmanagement sieht es jedoch anders aus. In Deutschland sind 66 Menschen pro eine Million Einwohner dem Virus zum Opfer gefallen. In Britannien liegt die Zahl bei 283 pro Million, hieß es in der BBC-Sendung »The Week«.

Der wochenlange Ausfall des Premiers war sicher ein Problem. Jeden Tag wurde zu einer virtuellen Pressekonferenz ein neues Kabinettsmitglied geschickt, das wenig Ahnung vom wichtigsten Thema hatte. Vom erschöpften, selbst gerade genesenen Gesundheitsminister Matt Hancock über den überforderten Johnson-Stellvertreter Dominic Raab bis zur ablösungsreifen Innenministerin Priti Patel sahen alle bei den Pressekonferenzen so aus, als wären sie lieber an jedem anderen Ort der Erde. Unterhausmitglied Robert Jenrick, der vorher allen Briten das Zuhausebleiben nahegelegt hatte, nahm den Fluchtgedanken wörtlich und wurde 250 Kilometer von seiner Residenz entfernt gesichtet. Lockerungen der Restriktionen im Interesse der schwächelnden Wirtschaft wurden von anonymen Regierenden angeregt. Das Gesundheitsministerium hielt dagegen. Nun fragt sich das Land, ob der scheinbar kopflos herumrennende Hühnerhaufen vom zurückgekehrten Premierminister zur Ordnung gerufen wird.

Bei einer kurzen Rede vor seinem Amtssitz in der Downing Street machte Johnson klar, dass eine schnelle Rückkehr zur Normalität nicht bevorsteht. Das Risiko einer zweiten Coronawelle bei einer Lockerung sei nicht nur für die zusätzlichen Opfer, sondern auch für die Wirtschaft selbst viel zu groß. Er müsse dem Rat der Wissenschaftler folgen.

Eine klare Mehrheit der Briten dürfte auch ihm vorerst dabei folgen. Aber zwei Fragen stellen sich: Wie ist es um die Wissenschaft bestellt, wenn Johnsons Stabschef Dominic Cummings und ein zweiter Brexit-Kämpfer, der Statistiker Ben Warner, nicht nur bei der Wissenschaftlerberatungsgruppe SAGE dabei sind, sondern sich ohne Fachkenntnisse bei den Diskussionen aktiv einmischen? Zweitens: auch wenn kein genauer Zeitplan für die Lockerung der Restriktionen ansteht, könnten die Regierenden nicht mindestens eine Reihenfolge der dazu nötigen Schritte veröffentlichen, wie vom Labour-Chef Keir Starmer gefordert? Zumindest haben die Ersten Minister von Schottland und Wales, die Nationalistin Nicola Sturgeon und Labours Mark Drakeford, Ende vergangene Woche solches für ihre Landesteile angedeutet.

Doch das Grundproblem bleibt. Johnson hat seine Ministerriege nicht wegen fachlicher Kompetenz oder Erfahrung ausgesucht, sondern als Antwort auf die Frage: Werden sie mich beim Austritt aus dem Brexit-Übergangsabkommen am 31. Dezember unterstützen? Das erklärt, warum die Regierung das EU-Angebot ausschlug, an einer gemeinsamen Ausschreibung für Schutzanzüge und -masken teilzunehmen, wie ein hoher Beamter des Außenministeriums einem Parlamentsausschuss sagte.

Kein Wunder, dass der Oppositionsführer Keir Starmer bei der virtuellen Fragestunde vergangene Woche mit Raab im Unterhaus leichtes Spiel hatte. Wird Gesundheitsminister Hancock sein Ziel von 100 000 Corona-Tests pro Tag erreichen, wenn die derzeitige Zahl bei nur 20 000 liegt? Wie sieht es bei der Nachverfolgung der Kontakte von Kranken aus? Wie viele Ärzt*innen und Pfleger*innen sind an der Pandemie verstorben? Jedes Mal musste Raab passen. Und Johnson? Während des Brexits hatte der Premier dem Nationalen Gesundheitsdienst 350 Millionen Pfund pro Woche vom ersparten EU-Mitgliedsbeitrag versprochen. Sein eigenes Leben wurde übrigens von Pflegern aus Portugal und Neuseeland gerettet.

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