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100 Tage Merz – eine Bilanz
Nach drei Monaten im Amt ist die amtierende Regierung jetzt unbeliebter als die Ampel-Koalition
Genau 100 Tage sind vergangen, seit Friedrich Merz (CDU) zum Bundeskanzler der schwarz-roten Regierung gewählt wurde. Dieser numerische Meilenstein bietet Anlass für eine erste Bilanz: Von den Regierungsparteien über die Opposition bis hin zu Interessenvertreter*innen hagelt es unterschiedliche Einschätzungen.
Die Meinung der Bevölkerung ist indessen recht klar. 39 Prozent der Bundesbürger sind mit Schwarz-Rot unzufriedener als mit der Vorgängerregierung, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag des Nachrichtenportals Web.de News ergab. 34 Prozent – und damit fünf Prozent weniger – sind mit der neuen Koalition zufriedener als mit der Ampel.
Ganze 60 Prozent sind laut der »Bild am Sonntag« unzufrieden mit der Arbeit der Regierung – nur 27 Prozent zufrieden. Ähnlich sieht das Meinungsbild für den Regierungschef aus: Nur 30 Prozent sind mit seiner Arbeit zufrieden – mit dem damaligen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) waren nach 100 Tagen im Amt im März 2022 43 Prozent der Befragten zufrieden.
Laut einer weiteren Umfrage des Markt- und Sozialforschungsinstituts Ipsos sind lediglich 23 Prozent der Bundesbürger auf Basis der ersten 100 Amtstage optimistisch, dass Bundeskanzler Merz die richtigen Weichen für die Zukunft stellt. Im »Trendbarometer« von RTL und N-TV hat die AfD mit 26 Prozent die CDU überholt, die nur noch auf 24 Prozent kommt. Die Partei, die Merz wegregieren wollte, ist in Umfragen nun stärkste Kraft im Land.
Erklärbar ist dies durch den holprigen Start der Regierung: die Wahl von Merz im zweiten Wahlgang und die Verhinderung einer offenen Aussage der Sonderermittlerin für die Maskenbeschaffung, Margaretha Sudhof, im Maskenskandal Jens Spahns (CDU) durch Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) und Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU).
Danach folgte das Aufbegehren weiter Teile der CDU und CSU in der Unions-Fraktion bei der Richter*innenwahl in der Causa Brosius-Gersdorf und später im Streit bezüglich des Teilstopps neuer Rüstungsexporte nach Israel. Hinzu kamen Streitigkeiten mit der SPD jenseits der Richter*innenwahl, wie beim Vorstoß der Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) zu einer Erhöhung der Lebensarbeitszeit zur Finanzierung der Rente und bei der Frage der Entkriminalisierung von Abtreibungen. Es gibt Erklärungsbedarf.
Laut Vize-Regierungssprecher Steffen Meyer (SPD) habe die Regierung in den ersten 100 Tagen im Amt viel erreicht. Insgesamt 118 Vorhaben seien auf den Weg gebracht worden – davon 57 Gesetzesinitiativen. Auch Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) betont in der »Rheinischen Post« man habe »vieles gemeinsam geschafft, was unser Land positiv verändern wird«. Er nannte das Finanzpaket für Infrastruktur und Verteidigung, »zwei Haushalte, den Wachstumsbooster für die Wirtschaft« und das Rentenpaket. Mit Blick auf die abgesagte Verfassungsrichter*innenwahl im Juli betont der SPD-Chef allerdings, dass sich die SPD auf Absprachen verlassen können müsse. Von der Zerstrittenheit der Vorgängerregierung aus SPD, Grünen und FDP sei die schwarz-rote Regierung »sehr weit entfernt«.
Unionsfraktionschef Jens Spahn (CDU) rief indes die Koalitionäre zu mehr Zusammenhalt auf. »Wir müssen als Koalition offenkundig noch enger zusammenwachsen«, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. »Diese Koalition ist weder eine Liebesheirat noch ein großes gesellschaftliches Projekt«, so Spahn. Die Koalition sei zum Wohle des Landes »zum Erfolg verpflichtet«, weil sie »politische Mäßigung gegen die radikale Zerstörungsstrategie der AfD« setze.
Kritik kommt dabei von der Linken. Linke-Fraktionschefin Heidi Reichinnek wirft der schwarz-roten Koalition nach 100 Tagen im Amt Uneinigkeit und eine unsoziale Politik vor. »Unsere Erwartungen an diese Regierung waren niedrig, doch die ersten 100 Tage der Merz-Regierung waren an Verantwortungslosigkeit und sozialer Kälte kaum zu überbieten«, sagte Reichinnek dem »Tagesspiegel«. Die bisherige Amtszeit der Bundesregierung aus Union und SPD sei »geprägt von ständigen öffentlichen Auseinandersetzungen der Koalitionäre und einem Chaos, das die Ampel-Schlussphase beinahe geordnet erscheinen lässt.«
Auch die Linke-Vorsitzende Ines Schwerdtner erklärte im Fernsehsender Phoenix, sie sehe die bisherige Amtszeit der Regierung als »großes Fiasko« an. Viele Bürger seien enttäuscht, weil versprochene Entlastungen nicht kämen. »Friedrich Merz ist der Kanzler der Reichen und nicht der breiten Bevölkerung.« Unternehmen würden steuerlich besser gestellt, doch in vielen Bereichen – etwa auf dem Miet-Wohnungsmarkt oder bei Bahntickets – würden die Preise weiter steigen. »Da, wo es im Alltag zählt, hat diese Regierung versagt«, verdeutlichte Schwerdtner ihre Kritik. Auch außenpolitisch sehe man, dass der Kanzler versuche, das »außenpolitisch glattzubügeln, was er innenpolitisch nicht zurechtbiegen kann«, so die Linke-Parteichefin weiter.
Auch das Ökonomenpanel des ifo-Instituts kritisiert die Wirtschaftspolitik der Regierung. 42 Prozent der Teilnehmenden bewerten die bisherigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen negativ. »Kritisch sehen die befragten Ökonomen vor allem die Ausweitung der Mütterrente und das Ausbleiben einer Erhöhung des Renten- und Pensionseintrittsalters. Auch die Reform der Schuldenbremse stößt bei einigen Teilnehmenden auf Kritik«, sagt ifo-Forscher Niklas Potrafke.
Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm hat an der Wirtschaftspolitik der Regierung Merz ebenfalls nicht viel Gutes auszusetzen: »Die Regierung hat bisher nicht geliefert«, sagte Grimm den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. »Deutschland muss endlich seine Hausaufgaben machen, tiefgreifende Reformen anpacken«, mahnte das Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Stattdessen werde Geld verteilt – etwa bei der Rente, Vergünstigungen bei Agrardiesel und für Gastwirte.
Ähnliche Kritik kommt auch von FDP-Chef Christian Dürr: »Friedrich Merz hatte einen echten Politikwechsel versprochen«, sagte Dürr der »Rheinischen Post« (Mittwoch). Dieser sei nicht nur ausgeblieben – es sei sogar noch schlimmer: »Die Regierung hat zwar viel mehr Geld zur Verfügung, kommt damit aber weniger aus als alle Regierungen vorher«, kritisierte der FDP-Politiker. Außerdem bemängelt er die fehlenden Reformen, ohne die die neuen Schulden »herausgeschmissenes Geld« seien. Mit Agenturen
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