Haltet Abstand zu den Schwurbeldemos!

Wer auf sogenannten Hygiene- und Querdenkerdemos von der Mündigkeit des Einzelnen spricht, muss auch mit der Kritik an solchen Protesten klarkommen

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.

Es gibt eine Vielzahl nachvollziehbarer Gründe, Kritik an der Anti-Corona-Krisenpolitik von Bund und Ländern zu üben. Familien, die sich bei der Doppelbelastung von Arbeit und Kinderbetreuung vom Staat allein gelassen fühlen, Niedriglöhner, die ihre Existenz nicht allein über Kurzarbeitergeld bestreiten können oder jene Millionen in den systemrelevanten Berufen, die nun mit Einmalzahlungen abgespeist werden, wohl wissend, dass sich an ihren Arbeitsbedingungen auch in Zukunft nichts ändert. Dass die Frustration bei diesen Menschen tief sitzt, ist nachvollziehbar. Wenn jene ihre Forderungen an die Politik durch Protest auf der Straße - unter Einhaltung der notwendigen Hyginemaßnahmen - ausdrücken, ist dies nicht nur ihr Grundrecht, sondern jeder Unterstützung durch progressive Kräfte wert. Apropos Grundrechte: Wer auf einer Demonstration mit mehreren tausend Teilnehmern behauptet, sein Recht auf freie Meinungsäußerung werde beschnitten, agitiert auf dem gleichen demagogischen Niveau wie AfD-Politiker, die in Talkshows vor Millionenpublikum geifern, ihre Positionen würden systematisch unterdrückt.

Es sollte jedem Einzelnen zu denken geben, welche unheilvolle Allianz sich bundesweit bei sogenannten Hygiene- und Querdenkerdemos zusammenfindet. Wenn auf der Protestkundgebung Reichsflaggen neben dir wehen, selbsterklärte Bürgerreporter auf der Bühne erzählen, Bill Gates wolle die Welt kontrollieren, oder der Demoanmelder behauptet, irgendwelche Eliten würden heimlich das Blut von Kindern trinken, dann sollte jeder Reißaus nehmen, der mit solchen Verschwörungsideologen nicht in Verbindung gebracht werden will. Spätestens auf den in den sozialen Netzwerken und durch Medien verbreiteten Bildern lässt sich nicht mehr trennen, wer da auf den Stuttgarter Wasen oder vor dem Berliner Reichstag aus welchem Interesse demonstriert. Und wer keine physische Distanz zu Rassisten und Antisemiten hält, der muss mit dem Vorwurf klarkommen, solche Positionen mindestens stillschweigend zu akzeptieren.

Der »Zeit«-Journalist Tilman Steffen schrieb am Dienstag auf Twitter als Reaktion auf einen Kommentar in den Tagesthemen, es sei gut, »in den Corona-Demos nicht primär die Radikalen und Verschwörer zu sehen, sondern jene, die berechtigt Sorgen, Ängste und Kritik äußern. Und sich mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen - die sie haben sollten«.

Das Ganze erinnert sehr an eine Debatte, die erst vor wenigen Jahren ausgetragen wurde. Ersetzt man »Corona-Demos« durch »Pegida« fühlt man sich in das Jahr 2014 zurückversetzt, als die rassistische Bewegung in Dresden ihren Anfang nahm. Auch damals wurde diskutiert, ob und welche Teile der Pegida-Anhängerschaft von der Politik ernst genommen werden müssten. Dies war schon damals falsch, weil darin mitschwang, diese montäglichen Aufmärsche in der Elbmetrople hätten einen Kern, der unsere pluralistische Gesellschaft vorwärts bringen könnte. Das Gegenteil war der Fall. Anstatt sich um die Sorgen von Prekarisierten, Armen und Geflüchteten zu kümmern, klebte die Öffentlichkeit an den Lippen von Leuten wie Lutz Bachmann.

Interessant ist, dass auf solchen Protesten oft die Mündigkeit des Einzelnen postuliert wird, diese in der Kritik an Pegida oder jetzt an den »Hygienedemos« aber nie eingefordert wird. Denn Mündigkeit heißt auch, sich über sein eigenes Verhalten im Klaren zu sein und einen Zustand reflektieren zu können. Wer dies tut, kann nur zu einem Schluss gelangen: sich nicht mit Verschwörungsideologen, Antisemiten und Rassisten gemein zu machen.

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