Hunger bedrohlicher als Corona

Über die Folgen der Pandemie im Globalen Süden und die Entwicklungspolitik.

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 5 Min.

»Für uns ist die Atemschutzmaske das Gesicht der Coronakrise, für Millionen Kinder in armen Ländern hat die Coronakrise das Gesicht von Armut und dem Ende von Bildungschancen.« Mit diesen Worten lenkt Birte Kötter, Vorstandssprecherin der Kinderhilfsorganisation »terre des hommes«, den Blick auf die Folgen der Coronakrise im Globalen Süden, die hierzulande kaum eine Rolle spielen.

An Corona kommt derzeit keiner vorbei, auch nicht der »Kompass 2020«. Unter diesem Titel veröffentlichten Welthungerhilfe und »terre des hommes« am Freitag ihren mittlerweile 27. Bericht »Zur Wirklichkeit der deutschen Entwicklungspolitik«. Sicher ist: Die Corona-Pandemie stellt auch die Entwicklungspolitik samt Nothilfe vor neue Herausforderungen. »In Folge der Krise könnte die Zahl der Hungernden von 820 Millionen auf eine Milliarde steigen«, sagte Mathias Mogge, Generalsekretär der Welthungerhilfe. Vorgestellt wurde der Bericht erstmals auf einer Videokonferenz.

Mogge ergänzte: »Die Einkommensmöglichkeiten der Ärmsten gehen sofort verloren, wenn Tagelöhner und Wanderarbeiter durch die Corona-Restriktionen von einem Tag auf den anderen keine Arbeit mehr haben. Für sie ist die Gefahr, an Hunger zu sterben, bedrohlicher als das Virus selbst.« Mogge sieht die Corona-Pandemie in den Ländern des Globalen Südens erst am Anfang. In den Flüchtlingslagern in Bentiu im Südsudan mit über 100 000 Geflüchteten und im größten Flüchtlingslager der Welt, Cox’s Bazar in Bangladesch, wo über 640 000 geflüchtete Rohingya leben, seien gerade die ersten Fälle der Lungenkrankheit Covid-19 erfasst worden. Und in Simbabwe gebe es ein Beatmungsgerät und vier Intensivbetten im ganzen Land, deutete Mogge den großen Bedarf an Unterstützung an.

Erst vor wenigen Tagen teilte die UNO mit, dass sie für humanitäre Hilfsmaßnahmen in armen Ländern, die von der Corona-Pandemie besonders stark betroffen sind, deutlich mehr Mittel benötigt. Statt zwei Milliarden Dollar, wie man vor rund sechs Wochen angekündigt hatte, betrage der Bedarf nun 6,7 Milliarden Dollar. Einfach wird das Auftreiben dieser zusätzlichen Gelder nicht: Bis dato erhielt die UNO etwa eine Milliarde Dollar für Corona-Nothilfemaßnahmen - lediglich die Hälfte des ursprünglich kommunizierten Bedarfs. Im Jemen herrscht laut den Vereinten Nationen die schlimmste humanitäre Krise weltweit. Dort sind erst 34,5 Millionen US-Dollar oder ein Prozent der benötigten Gelder für die humanitäre Hilfe 2020 bislang bei der UNO eingegangen.

Nach 46 Jahren Ziel erreicht

In der Zeit vor Corona war Deutschland absolut mit 23,8 Milliarden US-Dollar (21,3 Milliarden Euro) 2019 der zweitgrößte Geber weltweit. Auf dem ersten Platz standen die Vereinigten Staaten, den dritten belegte Großbritannien, danach folgten Japan und Frankreich. Der »Kompass 2020« stellt fest: Deutschland bleibt ein Schwergewicht, was Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe angeht - mit 16 Prozent stammte jeder sechste Euro der globalen staatlichen Entwicklungshilfe (ODA) aus Deutschland. Seit 2016 sinkt die deutsche ODA allerdings aus einem simplen Grund: Es kommen weniger Geflüchtete und damit fallen weniger Kosten für Geflüchtete im Inland an, die auf die ODA angerechnet werden. 2016 wurde die staatliche Entwicklungshilfe zum ersten und bisher einzigen Mal auf die Quote von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens gehievt. Ein Ziel, das Deutschland und andere Geberländer im Rahmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 24. Oktober 1970 innerhalb von fünf Jahren zu erreichen versprachen. Es dauerte dann 46 Jahre, bis die Quote ein einziges Mal erreicht wurde. Im vorigen Jahr lag Deutschland bei 0,61 Prozent.

Allerdings unterstrich Mogge, dass die Bundesregierung in den vergangenen Jahren ihre Etats für internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe deutlich gesteigert habe. Der Haushalt des Entwicklungsministeriums war 2020 (10,9 Milliarden Euro) eineinhalbmal so groß wie 2015 (6,5 Milliarden Euro). Am meisten hätten die für Sonderinitiativen bereitgestellten Mittel zugenommen, vor allem die 2014 aufgelegte Sonderinitiative Flucht und Migration und die Sonderinitiative »EINEWELT ohne Hunger«.

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat die Herausforderung durch die Corona-Pandemie angenommen. Es hat ein Corona-Sofortprogramm aufgelegt und will dafür eine Milliarde Euro für diesen Zweck umwidmen. Zudem hat Entwicklungsminister Gerd Müller weitere 3,15 Milliarden Euro aus dem Nachtragshaushalt beantragt. Für die Autoren des »Kompass 2020« ist klar, dass das BMZ-Sofortprogramm nicht zu einem Dauerhilfsprogramm werden darf. Gerade jetzt dürften »langfristige und strukturbildende Entwicklungsmaßnahmen nicht zurückgefahren werden.« Die ländliche Entwicklung sollte daher gerade angesichts der Covid-19-Krise mehr denn je durch die Entwicklungszusammenarbeit gefördert werden. »Bis zu 70 Prozent der Erwerbsbevölkerung in Entwicklungsländern arbeiten in der Landwirtschaft - ohne jede soziale Absicherung. Jede Strategie, um die Not zu lindern und eine wirtschaftliche Erholung einzuleiten, muss den Agrar- und Ernährungssektor ins Zentrum stellen«, sagt Mogge und fügt hinzu: »Bäuerinnen und Bauern sind systemrelevant, insbesondere in Entwicklungsländern. Die Finanzierung für Hungerbekämpfung und die ländliche Entwicklung dürfen daher nicht reduziert werden.« Kötter von »terre des hommes« fordert: »Das Corona-Sofortprogramm muss gezielt Maßnahmen im Bereich der Ernährungssicherung und der Förderung von Grundbildung für Kinder enthalten, damit sie nicht dauerhafte Verlierer der Krise bleiben.«

Antrag auf Entsolidarisierung

In der von Müller geplanten Umschichtung sieht Mogge die Gefahr, dass dadurch an anderer Stelle Löcher gerissen werden. Aus diesem Grund lehnt Helin Evrim Sommer von der Linksfraktion die Umschichtung ab. Die entwicklungspolitische Sprecherin im Bundestag fordert, zusätzliche Mittel in Höhe von 4,15 Milliarden Euro zur Bewältigung der Corona-Pandemie zur Verfügung zu stellen.

Kommenden Donnerstag wird im Bundestag über Entwicklungspolitik debattiert, auf Antrag der AfD, deren Vorschlag in eine ganz andere Richtung zielt: Streichung des kompletten Entwicklungshaushalts zugunsten von Coronahilfe für Deutsche. Chancen hat dieser Antrag auf Entsolidarisierung nicht. Und die großzügigen Vorstellungen der Linksfraktion werden es schwer haben.

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