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Einlöten und ausgraben

Ein sowjetischer Schriftsteller in der inneren Emigration: Der erste Band der Tagebücher von Michail Prischwin

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Der russische Schriftsteller Michail Prischwin führte von der Revolution 1905 bis zu seinem Tod 1954 Tagebücher. Größtenteils konnten sie erst nach dem Ende der Sowjetunion veröffentlicht werden - 13 000 Seiten, 18 Bände. Die Tagebücher waren für ihn »das Eigentliche« in seinem Leben, sein Fühlen, Denken und Sprechen. Er rettete sie aus seinem brennenden Haus, nahm sie in einem Koffer mit, als er im Zweiten Weltkrieg Moskau verlassen musste, vergrub sie im Wald. Prischwins zweite Ehefrau hat nach seinem Tod 120 Hefte entziffert, abgeschrieben, in verzinkten Blechkisten eingelötet, vergraben und damit für unsere Zeit erhalten.

Schon die Lektüre des ersten Bandes der neuen deutschen Übersetzung überzeugt uns davon, dass wir den wahren Prischwin, der lange als »Sänger der russischen Natur« und Kinderbuchautor galt, nicht kannten - zumindest nicht bis zum Erscheinen der Bürgerkriegserzählung »Der irdische Kelch« im Berliner Guggolz-Verlag im Jahr 2015.

Eveline Passet hatte sie damals übersetzt. Nun bringt sie Prischwins Tagebücher in einer vierbändigen Auswahl heraus. Der erste Band umfasst die Jahre von 1917 bis 1920: Von Herbst 1917 bis Frühjahr 1918 gehört der Schriftsteller der Redaktion einer Petersburger Zeitung der Sozialrevolutionäre an und tritt mit antibolschewistischen Artikeln hervor. Er wird verhaftet und zieht sich auf das kleine Familiengut in Chruschtschowo bei Jelez zurück, das im Herbst 1918 in eine Kommune eingegliedert wird. Prischwin schlägt sich fortan an verschiedenen Orten als Bibliothekar, Lehrer und Kurator eines Museums der Gutsbesitzerkultur durch.

Vorher hatte er in Riga, Leipzig und Jena ein Studium absolviert, wegen seiner Kontakte zur Sozialdemokratie und der Übersetzung von August Bebels Buch »Die Frau und der Sozialismus« im Gefängnis gesessen, als Agronom und Zeitungskorrespondent gearbeitet, den russischen und skandinavischen Norden, die Krim und Kasachstan bereist und seit 1906 Erzählungen über seine Reisen und die Beziehung von Mensch und Natur veröffentlicht.

Die Tagebücher von 1917 bis 1920 weisen einige konstante Themenkreise auf: Naturbeobachtungen, Alltagssorgen, Betrachtungen zu Politik, Philosophie und Literatur, Urteile über Schriftstellerkollegen. Viele Einträge beginnen mit ähnlichen Beobachtungen: »Jetzt ist also Ostern. Der erste Frühling in meinem Leben, an dem ich nichts Österliches empfinde und es mich nicht bewegt, dass irgendwo auf den russischen Flüssen das Eis bricht, die Vögel aus dem Süden zu uns geflogen kommen, die auftauende Erde atmet. Denn es ist Krieg...« (2. April 1917). Die Alltagssorgen betreffen die Familie, die Arbeit, die Wirren der Zeit, Gewalt, Hunger, Krankheit und Tod.

Dominierend sind politische Betrachtungen. Prischwin verortet sich im russischen Bürgerkrieg dort, wo es »weder Weiße noch Rote« gibt, und möchte zu den Menschen gehören, »die nach Liebe und Frieden streben«. Russland erscheint ihm als »Gefängnis«, unter dem Zaren wie unter den Bolschewiki. Die Revolution könne »vor dem Gericht des alltäglichen Lebens« nicht groß sein, weil sie »die lebendige menschliche Seele einer dunklen Macht zur Peinigung vorgeworfen hat«. Um das Wohl der ganzen Menschheit willen werde »gegen lebendige Menschen grausame Gewalt ausgeübt«. Lenin, der Name, der in den Tagebüchern am häufigsten fällt, sei ein »Popanz«, er betrachte das Volk als »Vieh, das man im Stall halten muss«.

Sei die alte staatliche Macht »eine Sache des Tieres im Namen Gottes« gewesen, so bezeichnet er die neue Macht als »eine Sache desselben Tieres im Namen des Menschen«. Kommunismus ist für ihn eine Bezeichnung »für das Leben von Dieben und Räubern als Staatsmächtige«.

Prischwin polemisiert gegen Alexander Blok, der die Intelligenz dazu aufruft, »die große Musik der Zukunft zu hören«. Freundschaftlich fühlt er sich Alexej Remisow, Maxim Gorki und Nikolai Kljujew verbunden. Remisow, der Gründer der »Großen und Freien Affenkammer«, steht ihm mit dem »Lied vom Untergang der russischen Erde«, den skurrilen Märchen und Legenden besonders nahe. Gorki, der 1912/14 im Verlag »Snanije« eine dreibändige Werkausgabe Prischwins gefördert hat, gefällt ihm wegen der von Nietzsche beeinflussten Barfüßler-Erzählungen, geht ihm im Frühjahr 1918 aber mit seinen »die Arbeiter belehrenden Texten in der ›Nowaja Schisn‹« auf die Nerven. Von Kljujew, der mit der einen christlich-bäuerlichen Sozialismus anstrebenden Schriftstellergruppe »Skythen« sympathisiert, und den religiös gefärbten Gedichten des Bauerndichters ist er hingegen fasziniert.

Eveline Passet hat Prischwins Tagebücher treffsicher und mit großem Einfühlungsvermögen übersetzt. Ihre hilfreichen Kommentare basieren auf den Anmerkungen zu den russischen Ausgaben der Diarien und unzähligen weiteren Quellen. Ihr informatives Nachwort wird durch Michail Schischkins Essay »Prischwins Erwiderung« ergänzt, der überzeugend darstellt, wie wichtig für einen Sowjetliteraten, der eine Spielart der inneren Emigration wählte, die »Kunst der Mimikry« war.

Michail Prischwin: Tagebücher Band 1: 1917 bis 1920. Aus dem Russischen übersetzt, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Eveline Passet. Mit einem Essay von Michail Schischkin. Guggolz-Verlag, 459 S., geb., 34 €.

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